Kuschelkurs oder eigener Tanzbereich?
I: Herzlich willkommen zu von Achtsam bis Zuckerfrei, dem Gesundheitspodcast der Audi BKK. In diesem widmen wir uns einer Vielzahl an Themen, die Körper und Geist betreffen. Herzlich willkommen zurück im Gesundheitspodcast der Audi BKK von Achtsam bis Zuckerfrei nach der Winterpause. Heute haben wir wieder ein spannendes Thema für euch, das in letzter Zeit immer häufiger diskutiert wird. Es ist Nähe beziehungsweise Einsamkeit. Erst kürzlich hat es durch die Pandemie immer wieder Aufmerksamkeit auf das Thema gegeben. Es ist ein zunehmendes Problem, das dadurch etwas mehr aufgefallen ist. Obwohl wir digital immer vernetzter sind, werden wir zunehmend einsamer. Zunächst klingt es nach keiner großen Sache. Es ist aber ein so ernstes Problem, sodass Großbritannien zum Beispiel 2018 sogar einen eigenen Ministerposten geschaffen hat. Wie sind die Auswirkungen auf unsere Gesundheit? Brauchen wir Menschen alle gleich viel Nähe? Wieviel Nähe man benötigt ist ganz individuell und hat den Ursprung in der eigenen Kindheit und den dort gemachten Erfahrungen. Das kann beim rein körperlichen Abstand beginnen. Manche Menschen fühlen sich unwohl, wenn ihnen andere nah kommen. Je weniger verbunden uns die Person ist, desto weniger nah wollen wir ihr kommen. Ihr habt bestimmt auch die Situation erlebt, in der euch jemand sehr nah kommt oder euch ungefragt berührt hat. Ein Beispiel ist das Schlange stehen an der Supermarkt Kasse. Gerade in der Pandemie ist vielen aufgefallen, dass man sich einen größeren Abstand wünscht. Eine Freundin von mir scherzte immer, sie könne sobald die Pandemie vorbei ist wieder zu ihren nordischen fünf Metern Abstand zurückkehren. Während es für die einen völlig normal ist, sich beim Gespräch nahezukommen und zu berühren, kann es bei anderen enormen Stress verursachen. Neben körperlicher Nähe ist auch die emotionale Nähe und die Zeit, die man für sich braucht wichtig. Bestimmt kennt ihr die Begriffe introvertiert und extrovertiert. Wir fragen uns, ob introvertierte oder extrovertierte mehr Nähe brauchen. Was hat es mit diesen Begriffen überhaupt auf sich? Um das zu klären durfte ich die Autorin und Podcasterin Melina Royer sprechen. Wir haben später außerdem eine Psychologin zu Gast. Für euch ist es also eine Doppel Interview Folge. Der korrekte Begriff ist eigentlich nicht extrovertiert, sondern extravertiert. In unserem Sprachgebrauch ist die Verwendung dieses Begriffs unüblich, weshalb auch wir immer wieder hin und her wechseln. Extravertiert wäre fachlich korrekter. Die meisten nutzen aber extrovertiert. Ich wünsche viel Spaß beim Interview mit Melina. Hallo Melina. Schön, dass du da bist. Ich kenne Leute, die den ganzen Tag unter Menschen sein können. Das wären sie am liebsten jeden Tag der Woche. Es gibt auch die, denen man am besten Wochen im Voraus den Wunsch zum Treffen mitteilen müsste, damit sie sich emotional vorbereiten können. Haben wir wirklich unterschiedliche soziale Bedürfnisse oder ist alles antrainiert? Kläre uns auf.
B: Es ist ein unglaublich spannendes Thema, mit dem ich mich wahnsinnig viel auseinandergesetzt habe. Ich breche es simpel runter. Unsere Reizverarbeitung liegt am Aufbau des Gehirns. Mittlerweile finde ich wahnsinnig schön, dass wir alle so unterschiedlich sind. Früher fiel mir das nicht so leicht. Es ist wichtig, zu verstehen, dass mit jedem Temperament und Bedürfnis unterschiedliche Stärken und Fähigkeiten einhergehen. Wenn alle gleich wären, wäre es nicht nur langweilig, sondern ungünstig und gefährlich. Stelle dir vor, jeder wolle den gleichen Job machen und würde Chef sein wollen, ohne dass sich jemand in ein Spezialgebiet einarbeiten wollen würde. Auch wenn jeder gern Künstler oder Künstlerin wäre, gäbe es niemanden für die Buchhaltung. Das wäre blöd.
I: Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass wir so eine bunte Gesellschaft sind. Wie kann ich für mich erkennen, zu welcher Gruppe ich gehöre? Mir schwirren die Begriffe introvertiert und extrovertiert durch den Kopf. Man hat die Meinung, introvertierte Menschen seien schüchtern und nur für sich, während extrovertierte aus sich rauskommen, da sie es brauchen. Das ist dein Spezialgebiet. Was kannst du mir dazu sagen?
B: Erstmal ist wichtig, sich von der Vorstellung zu trennen, dass jeder in eine der beiden Schubladen reinfällt. Ich würde versuchen, mir Introversion und Extraversion wie eine Skala mit zwei Endpunkten vorzustellen. Keiner ist extrem das eine oder andere, sondern die meisten liegen im Mittelfeld. Jeder kann sich sowohl intro-, als auch extrovertiert verhalten. Die Frage ist, ob wir tendenziell eher unsere innere oder die äußere Welt bevorzugen. Die Tendenzen zeigen, ob man eher der introvertierte oder der extrovertiertere Typ ist. Verhalte ich mich in kleinen Gruppen zurückhaltend und fühle mich zu zweit oder in kleinen Runden richtig wohl und blühe auf, dann bin ich wahrscheinlich eher introvertiert. Fühle ich mich durch viele Interaktionen stimuliert und gewinne total Energie, dann bin ich eher extrovertiert.
I: Du sagst, es sind keine starren Schubladen, sondern es gibt auch Hybridformen dazwischen.
B: Genau. Da es eine Skala ist und wir alle auf vielen Punkten zwischen den Endpolen liegen, sind die meisten Menschen eher mittig angeordnet. Das nennt man ambivertiert. Wie ist das bei dir?
I: Spannend. Ich bin definitiv ambivertiert. Ich kann gut mal im Mittelpunkt stehen und liebe große Feiern und von vielen Menschen umgeben zu sein. Das brauche ich aber maximal einmal die Woche. Die anderen Tage brauche ich für mich. Wenn die Tage mit Verabredungen überwiegen, kann ich das mal machen. Jedes weitere Treffen fällt mir schwerer. Selbst wenn es schöne Treffen sind, kann ich es nicht mehr genießen. Das tut mir leid, da ich die Leute mag. Dennoch sitze ich da und möchte nur nach Hause. Daher gewöhnte ich mir an, mindestens jeden zweiten Abend für mich zu verplanen, damit ich die Zeit mit meinen Freunden wirklich wertschätzen und genießen kann. Wie ist es bei dir?
B: Das ist der richtige Punkt. Du spürst, wo deine Bedürfnisse liegen und kannst danach deinen Zeitplan gestalten. Für mich ist es ähnlich. Ich kann mal unter viele Menschen gehen. Das erschöpft mich aber schneller. Einmal die Woche unter vielen Leuten zu sein wäre mir schon zu viel. Es hängt davon ab, ob ich viele Meetings hatte. Wenn ich im beruflichen Alltag viele Meetings hatte, bin ich ausgelutscht und brauche das Wochenende für mich. Das zu kommunizieren finde ich wichtig, während man dennoch Termine zusammenfindet und Aktivitäten findet, die für beide gut sind. Man muss nicht immer mit ganz vielen Menschen zum größten Trubel gehen, sondern kann Kompromisse finden und mal in ein ruhigeres Restaurant gehen.
I: Du sprichst einen super Stichpunkt an. In einer freundschaftlichen, familiären oder partnerschaftlichen Beziehung könnten wir sehr unterschiedlich sein. Ich bin keine sehr introvertierte Person. Wäre ich aber eine und hätte ich einen super extrovertierten Partner, frage ich mich, ob das überhaupt funktionieren kann. Wie findet man da eine Lösung?
B: Unterschiedliche Persönlichkeiten verursachen immer Reibung. Das ist in allen Beziehungen so. Der Knackpunkt ist, sich in den grundlegenden Fragen der Lebensplanung einig zu sein und dieselben Ziele und Werte zu teilen. Das sind die wichtigsten Grundbedürfnisse. Wenn sich ein Partner Kinder wünscht und der andere nicht, steht man irgendwann vor großen Problemen. Introversion und Extraversion kann man sehr schön aneinanderreihen und miteinander wachsen. Ich finde sehr wichtig, dass jede Partei weiß, dass sie ihre Freiräume bekommen kann und dass Respekt und Verständnis für die andere Person da ist. Man kann wieder zusammenkommen und die gemeinsame Zeit genießen. Für eine introvertierte Person kann es heißen, zu lernen sich auf neue Erfahrungen einzulassen, obwohl sie keinen Bock drauf hat. Manchmal macht man tolle Entdeckungen, auf die man sonst nie gekommen wäre. So geht es mir zumindest. Die extrovertierte Person kann so auch lernen, mehr Ruhe in sich selbst zu finden. Es ist immer ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
I: Ich stimme dir zu. Ich bin durch meinen Partner extrovertierter geworden. Kann sich sowas verändern? Früher brauchte ich viel mehr Zeit für mich. Auch einmal die Woche unter größere Menschenansammlungen zu gehen wäre absolut undenkbar gewesen. Mein Partner war das Gegenteil. Jetzt haben wir uns als guten Kompromiss in der Mitte gefunden. Glaubst du, es ist Gewohnheit oder kann man das Wesen verändern?
B: Ich glaube nicht, dass wir in Stein gemeißelt sind. Wir kommen mit einer bestimmten Genetik auf die Welt und unsere Persönlichkeit macht keine 180 Grad Drehung. Man kann sich aber natürlich weiterentwickeln. Ich sehe das ganze Leben als Lern- und Wachstumsprozess. Ich bin mit der Zeit wesentlich freier geworden. Ich bin ein recht schüchterner Mensch. Das ist nicht das gleiche wie Introversion, sondern heißt, dass ich unter vielen antrainierten sozialen Ängsten leide und mir viele Gedanken darüber mache, was andere von mir denken. Wenn das dazukommt, kann man mit der Zeit lernen, die Ängste und Hemmungen abzubauen. Dadurch wird man für andere wesentlich zugänglicher und freier wahrgenommen. Das war bei mir so ein Lernprozess.
I: Das war es bei mir vielleicht auch. Früher war ich eine Mischung aus introvertiert und extrovertiert und schüchtern. Das schüchterne lege ich immer mehr ab. Was du sagst macht total viel Sinn.
B: Vielleicht ist es das.
I: Im heutigen Podcast geht es um Nähe und Einsamkeit. Neigen introvertierte Menschen eher zum einsam sein? Ich las eine Studie, über die ich stolperte, da ich es mir andersrum vorgestellt hatte. Die Studie besagt, introvertierte Menschen würden fünfmal häufiger unter Einsamkeit leiden, als extravertierte Menschen. In meiner Vorstellung müsste jemand der extravertiert ist und Kraft aus Zusammensein mit Menschen zieht, viel eher einsam sein, da ihm viel schneller was fehlt. Die Studie deute ich aber so, dass introvertierte Menschen nicht merken, dass ihnen ein Bedürfnis fehlen könnte und dass sie einfach allein sind. Wie ist deine Meinung zu dieser Studie?
B: Alles kann, aber muss nicht zutreffen. Da steckt viel drin. Es ist nur eine Studie oder Statistik. Ich weiß nicht, was die Bedingungen waren. War es eine Befragung? War den Leuten klar, dass es einen Unterschied zwischen Schüchternheit und Introversion gibt? Diese Faktoren spielen auch mit rein. Ich habe gerade mit meinem Mann Timon in unserem Podcast Still und Stark über folgende Frage gesprochen. Viele verwechseln Einsamkeit mit allein sein. Bin ich einsam oder nur allein, da ich gerade auftanken will? Nur gerade allein zu sein heißt nicht, einsam zu sein. Man kann andersrum auch unter vielen Menschen einsam sein, wenn man gefühlt nicht akzeptiert wird und sich verstellen muss. Das kenne ich von mir. Da spielen viele Faktoren wie auch soziale Ängste und gefühlte Hemmung hinein. Aufgrund meiner Schüchternheit würde ich ja sagen. Früher war ich sehr einsam, da ich nicht wusste, wie ich auf andere zugehen soll. Ich hatte Angst mich mitzuteilen, weil ich dachte, ich sei nicht schlau genug. Sage ich was Intelligentes oder mache ich mich gerade zum Affen? Das muss man immer mitberücksichtigen. Man kann introvertiert gleich einsam nicht generalisieren.
I: Ich hatte gehofft, dass deine Antwort in die Richtung geht. Die Frage ist immer, wie die Studie ablief. Man sagt, man solle keiner Studie trauen, die man nicht selbst gefälscht hat. Da gibt es große Unterschiede. Solange man nicht die Bedingungen der Studie kennt, sollte man da keine pauschale Aussage treffen. Am Ende sind es keine starren Schubladen. Es tut gut zu wissen, was Introversion und Extraversion ist. Manchmal kann man für gewisse Merkmale seiner Person eine Erklärung finden. So ging es mir damals. Man sollte aber nicht sein eigenes Handeln danach ausrichten, dass man offiziell introvertiert ist und daher das fühlen und sich so verhalten müsste. Danke, dass du das so deutlich gemacht hast. Wäre dir etwas wichtig, das die Hörer mitnehmen sollten oder ist alles gesagt?
B: Ich sage folgendes gerade für Menschen, die gerade realisieren, dass sie eher introvertiert sind. Häufig lehnt man sich selbst ein wenig ab, da wir in einer Gesellschaft leben, in der erwartet wird, dass man immer wahnsinnig aktiv ist, sich selbst inszenieren kann und dass man ein Smalltalk Genie ist. Menschen mit introvertierteren Fähigkeiten haben oft das Gefühl, nicht zu genügen oder falsch zu sein. Ich sage da deutlich nein. Es ist so wichtig, dass jeder sein darf, wer er ist. Es ist wichtig, dass wir stattdessen Teams zusammenstellen, in denen sich Menschen geschätzt und gesehen fühlen und in denen sich jeder in seiner Rolle entfalten darf. Man sollte anerkennen, dass Stille sehr wichtig ist. Viele Ideen und kreative Dinge können nur in Stille entstehen. Da sollte man gucken, was seine Stärken sind und sich auf seine eigenen Ressourcen besinnen, statt zu gucken, was fehlt.
I: Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es durchaus Unterschiede gibt, wie viel Nähe man braucht. Das ist eine individuelle Typ Sache. Es gibt die Intros und die Extros, wie wir gerade gelernt haben. Mit dem Thema Einsamkeit lässt sich das nicht zwangsläufig verknüpfen. Vieles, wie erlernte soziale Strukturen spielen da eine Rolle, weshalb wir unbedingt mit der Psychologin Anita Wölk darüber reden wollen. Die Menschen in Deutschland werden erwiesen immer einsamer. Über die Hälfte der Bevölkerung sieht Einsamkeit als ein Problem an. Das Empfinden tritt über alle Schichten und Altersgruppen hinweg auf. Das macht auch die Pandemie nicht besser. Die aktuelle Situation ist für uns alle eine Herausforderung, egal ob introvertiert oder extrovertiert. Auch wenn man wenige Kontakte benötigt und die Pandemie besser durchhalten kann, lauern hier Gefahren. Man kann sich mit der Einsamkeit zu wohl fühlen und verlernen, sich in Gesellschaft zu befinden. Das andere Extrem ist, den permanenten Kontakt mit Menschen zu brauchen und daraus seine Kraft zu schöpfen, wenn einem genau das gerade verwehrt wird. Welche Auswirkungen kann starke Einsamkeit haben? Was ist mit Menschen, die kaum soziale Kontakte haben, auf die sie zurückgreifen können? Wie kommt man aus der Einsamkeit wieder heraus? Über all das reden wir mit der Psychologin und Gründerin Anita Wölk. Hallo Anita. Schön, dass du da bist. In der Vorbereitung für diese Folge hat mich eine Frage die ganze Zeit beschäftigt. Wir haben verschiedene Signale unseres Körpers, die uns etwas sagen, wie Hunger signalisiert, dass wir etwas essen sollten. Wofür ist aber Einsamkeit da?
B: Das ist eine ganz wichtige Frage. Es ist erstmal wichtig, Einsamkeit und Allein sein zu unterscheiden. Allein sein ist die objektive Isolation von anderen Personen. Oft ist das wünschenswert, selbstgewählt und aktiv herbeigeführt. Heute sagt man oft, es sei Me-Time. Man will keinen sehen. Das ist allein sein. Einsamkeit ist die wahrgenommene fehlende Verbindung zu anderen. Es ist also subjektiv. Man hat eigentlich ein viel höheres Bedürfnis nach Nähe, das objektiv Erlebte ist aber gar nicht so ausgefüllt. Es kann sowohl qualitativ, als auch quantitativ sein. Entweder sind die bestehenden Beziehungen in der Qualität nicht ausreichend oder man hat nicht die Anzahl an Verbindungen und Beziehungen. Das führt zum Einsamkeitsgefühlt. Paradox ist, dass Einsamkeit primär in Gesellschaft entsteht, da man da beginnt, sich mit anderen zu vergleichen. Soziale Ausschluss Erfahrungen werden stärker in einem Umfeld mit hoher sozialer Dichte, also vielen Menschen, wo man das Gefühl hat, nicht eingebunden zu sein, empfunden. Dadurch entsteht Einsamkeit erst. Man kann sich also allein nicht einsam oder in einer Gruppe total einsam fühlen. Das muss man immer auseinanderhalten, wenn man über Einsamkeit spricht. Ich komme zu deiner Frage, wozu Einsamkeit dient. Der Begriff Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft negativ besetzt und fühlt sich negativ an. Das sollte so nicht sein, da Einsamkeit wie Hunger ein wichtiges Signal für den Körper ist. Der Körper weiß durch Hunger, dass er Energie braucht. Bitte iss was. Einsamkeit ist ein Signal, sich Kontakte zu organisieren. Pass auf dich auf und sei wachsam für dich. Du hast ein Bedürfnis nach Nähe, da das beruhigend ist. Oder du willst gesehen werden und dich zugehörig fühlen. Der Grund für die Wichtigkeit sozialer Bindungen ist einfach. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir brauchen zum Überleben also andere Menschen und Beziehungen. Das sieht man schon bei der Geburt als Babys. Wir sind allein nicht lebensfähig und es hat nicht nur als Baby, sondern selbst jetzt einen großen Vorteil, Beziehungen zu haben. Ein Beispiel sind schwere Lebenssituationen, wie den Verlust eines geliebten Menschen. Da ist es wichtig, Beziehungen zu haben. Es können pragmatische Gründe sein wie ein Einkauf, wenn man sich das Bein gebrochen hat. Das bedeutet, Nähe zu spüren und anderen nah zu sein ist ein Grundbedürfnis von Menschen. Das ist unabhängig von Alter und Herkunft in uns tief verankert. Früher hat es unser Überleben gesichert und das tut es heute noch. So hat die Evolution das Gefühlt Einsamkeit als Frühwarnsystem etabliert.
I: Das ist super spannend. So negativ Einsamkeit besetzt ist, ist es doch so wichtig wie Hunger und sorgt dafür, dass wir alles für uns und unser Überleben tun. Ich las eine Studie, in der in Großbritannien 1200 Menschen erst 1997 und dann nochmal 2014 befragt wurden. 1997 sagten 50 Prozent der Menschen, sie haben keine Erfahrungen mit Einsamkeit gemacht. 2014 waren das nur 30 Prozent. 20 Prozent mehr Menschen haben also Erfahrungen mit Einsamkeit gemacht. Das hat also eine Zunahme erfahren. Wie erklärst du es?
B: Das ist eine spannende Entwicklung. Spontan denkt man, es gäbe immer mehr Menschen und Möglichkeiten wie Events auf der Welt und es sei immer was los. Daher untersuchten es chinesische Forscher. Durch das engere Zusammenleben in Städten zieht man sich paradoxer Weise zurück, da man weniger Platz für sich selbst hat und sich bedroht fühlt. Das führt zum Rückzugsverhalten, was in das paradoxe Muster passt. Der Trend der Zunahme von Einsamkeitsgefühl ist durch verschiedene Faktoren bedingt. Hervorheben möchte ich da die Veränderung der Gesellschaft sowie die Digitalisierung. Die Veränderung der Gesellschaft fokussiert sich primär auf die Individualisierung der Gesellschaft. Als Individuum wachsen wir also in der Verantwortung auf, selbst für seine Selbstverwirklichung verantwortlich zu sein. Es ist also wichtig, mich auf mich selbst zu konzentrieren, damit ich beruflich, sozial und physisch sowie kreativ erfüllt bin. Der Fokus auf mich allein, die Individualisierung, führt zu einer Herauslösung aus bisherigen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Strukturen. Das verändert Beziehungen in unserer Gesellschaft. Sie werden loser, flexibler und instabiler. Auch die gesellschaftliche Entwicklung der Industrialisierung und Modernisierung hat einen großen Einfluss. Wir sind mobiler, reisen mehr und sind kürzer an einem Ort. Wir ziehen für unseren Beruf um, wechseln unsere Berufe häufiger. Alles wird schnelllebiger. Durch diese erhöhte Mobilität wohnen wir vielleicht nicht mehr bei unserem sozialen Netzwerk. Manchmal ist es dann schwer, soziale Wurzeln zu schlagen, da wir nicht mehr an einem Ort sind. Diese Gründe bedingen die Veränderung der Gesellschaft oder sind durch sie bedingt. Ein anderes großes Thema wird viel diskutiert, da die Effekte ambivalent sind. Es konnten bei Digitalisierung sowohl positive, als auch negative Effekte nachgewiesen werden. Man gucke auf soziale Medien. Anfangs sagte ich, Einsamkeit entstehe in Gesellschaft durch Vergleiche. Soziale Medien intensivieren das total. Man kann auf Facebook Freundeslisten in Zahlen ausdrücken, Likes zählen und Kommentare lesen. Die Bindungen zu anderen werden zählbar. Dieses Problem hat die Heranwachsende Gesellschaft, also die Millenials, die in den 80ern und 90ern geboren wurden. Soziale Medien lassen das intensiver erleben und die Vergleichbarkeit wird höher. Digitalisierung darf man in dem Zusammenhang nicht nur schlecht sprechen. Positive Effekte sind Kontaktaufnahme und Verletzung mit anderen Gruppen. Medien können helfen, Einsamkeit zu verringern, wenn man ein großes Netzwerk hat, aber wie bei Corona isoliert ist. Die Distanz wird reduziert. Unsere Neurophysiologie ist aber eher noch auf dem Steinzeit Niveau. Oxytocin ist ein wichtiges Hormon, das im Gehirn ausgeschüttet wird. Das führt zum positiven Erleben von Verbindungen. Es wird nur ausgeschüttet, wenn ich weiß, dass ich persönlich gemeint bin und ich jemanden spüre, sehe oder umarme. Es kann nicht durch Digitalisierung ermöglicht werden. Dafür sind echte Beziehungen total wichtig. Medien können also bestehende Bindungen unterstützen, aber keine realen ersetzen. Die Digitalisierung wird dennoch immer mehr. Alles in allem kann das beim Menschen zu einem erhöhten Einsamkeitsgefühl führen.
I: Ich vergleiche Einsamkeit wieder mit dem Hungergefühl. Wenn ich nichts esse, sterbe ich irgendwann durch Verhungern. Wie gefährlich ist Einsamkeit?
B: Wie wir gerade gelernt haben, ist Einsamkeit an sich nicht gefährlich, sondern ein wichtiges, zum Leben gehörendes Signal. Geschlecht und Status sind da egal. Es ist wichtig und hat seine Daseinsberechtigung. Phasenweise einsam zu sein ist sogar positiv, da es Ressourcen freisetzt und uns hilft, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. Schädlich oder gefährlich ist aber chronische Einsamkeit, sich also langfristig einsam zu fühlen. Das ist eine der größten Gesundheitsgefahren überhaupt. Es gibt Studien von britischen Psychologen, die zeigen, dass das Sterberisiko durch eine erhöhte Einsamkeit um 45 Prozent gesteigert war. Das liegt daran, dass die wahrgenommene fehlende Bindung zu einem Stresszustand im Gehirn führt, was negative Auswirkungen auf das Immunsystem hat. Das wird geschwächt. Außerdem werden auch Herzkreislauferkrankungen wahrscheinlicher. Zusätzlich zu den körperlichen Gefahren der Einsamkeit ist auch die Psyche zusätzlich gefährdet. Risiko von Depression steigt durch Rückzug sowie Süchte und ungesunde Lebensweise, wie auch Demenz. Demenz ist je ausgeprägter, desto einsamer Leute waren.
I: Einsamkeit selbst ist nicht gefährlich, sondern chronische Einsamkeit. Warum ist es häufig eine Abwärtsspirale? Leute, die anfingen, einsam zu sein, rutschen in die chronische Einsamkeit rein?
B: Das ist eine spannende Frage, da es oft unbemerkt beginnt. Wir sind oft beschäftigt, einen Beruf aufzunehmen oder in eine neue Stadt zu ziehen oder wir beziehen unsere erste alleinige Wohnung. Wir sind mit unseren Lebensveränderungen total beschäftigt und beginnen, Treffen mit Freunden und Familie abzusagen, da man Zeit braucht, um klarzukommen. Wenn man das regelmäßig tut und das Grundbedürfnis nach Bindung langfristig nicht erfüllt, kommt es zu sozialem Schmerz, der ähnlich wie physiologischer Schmerz wirkt. Es wirkt ähnlich, als würde mir jemand vor das Schienbein treten. Ich zeige also auch beim sozialen Schmerz Abwehr und gehe in eine Abwehrhaltung. Ich ziehe mich also zurück. Im Rückzug werden wir sensibler für andere Personen und Verhaltensweisen. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass wir Gesichter und Mimik anders interpretieren, wenn wir einsam sind, als wenn wir es nicht sind. Sind wir einsam und unterhalten uns mit einer neutral guckenden Person, interpretieren wir den Gesichtsausdruck als misstrauisch. Diese veränderte Wahrnehmung für Menschen und Interaktion führt dazu, dass man sich gegenüber anderen immer misstrauischer verhält. Die ganze Welt will mir Böses. Ich sollte mich zurückziehen und mich schützen. So wirke ich auf andere Personen kälter. Verfestigt sich das, bin ich in der Abwärtsspirale und ziehe mich zurück und werde kälter. Somit verhalten sich andere anders, was ich noch sensibler wahrnehme. Da rauszukommen ist nicht leicht.
I: Ich kenne es aus meiner eigenen Erfahrung in der Pubertät. Ich habe an mir gezweifelt und rutschte immer weiter hinab. Es ist wie du es sagst. Man hat sein Empfinden total verändert und jeder will einem was Böses. Es war gar nicht leicht, da rauszukommen. Erst im Nachhinein erkannte ich, wie die Anzeichen waren und wir man reingerutscht ist. Das kann ich verstehen. Was du gerade sagtest fand ich auch spannend. Man hat sein Bild von einer einsamen Person im Kopf. Früher tauchte in meinem Kopf ein Mensch in einer Hütte allein im Wald auf. Die Person ist wirklich einsam. Deine Erklärung zeigte gerade, wie leicht es uns allen durch die Anforderungen passieren kann, dass man sich zurückzieht. Es kann uns alle treffen.
B: Es kann jeden treffen. Die größte Gefahr ist, dass es so schleichend passiert und es einem nicht direkt auffällt.
I: Das kann ich mir vorstellen. Angenommen, ich erkenne bei mir oder anderen Anzeichen dafür. Was kann ich dagegen tun?
B: Du merkst bei dir selbst, dass du dich einsam fühlst. Erstmal musst du es akzeptieren und es bewusst wahrnehmen. Das gehört zum Leben und Entwicklung dazu. Immer wenn wir uns neu finden und orientieren, geht es erstmal mit einem Einsamkeitsgefühl einher. Es kann wie gesagt auch Energien freisetzen. Daher kann es eine Chance sein. Man sollte es also annehmen und die Ursache herausfinden, statt sich zu schämen. Dann ist wichtig, sich kennenzulernen und in einen Dialog zu gehen und sich zu verbinden. Der Fokus auf sich selbst ist wichtig. Manche würden sich eine Dating App runterladen und Kontakte darüber haben, was zu einer kurzen Stillung des Einsamkeitssignals führen. Sobald man die App schließt oder der Kontakt wegbricht, kann das Gefühl zurückkommen. Man sollte daher überlegen, was man gerade braucht. Warum ist das Einsamkeitsgefühl da? Man sollte in einen wertschätzenden Dialog und eine liebevolle Verbundenheit mit sich selbst gehen und schauen, was man braucht. Wenn man gerade merkt, dass man sich isoliert, da es im Alltag nicht passt, dann habe ich einen Tipp. Etabliere Routinen. Man lernt schon als Kind, dass man Zähne putzt, damit die Zähne gesund bleiben. So ist es auch wichtig, soziale Routinen zu etablieren. Ich trage mir das in den Kalender ein. Ich habe einen Reminder, mich einmal die Woche bewusst mit Freundinnen zu treffen oder auszugehen, Kontakte zu knüpfen und meine Netzwerke zu pflegen. Neben Routinen mit anderen Personen ist wichtig, auf sich selbst zu achten. Studien zeigen, dass Einsamkeitswerte niedriger sind, wenn man ein gesundes Schlafverhalten hat. Physische Aktivitäten wie Sport sowie Kontakt zu Natur verringert laut Studien die Einsamkeit. Es ist also wichtig, nicht nur Routinen zu anderen Personen zu etablieren, sondern Routinen für sich selbst zu haben und sich selbst in Balance zu bringen. Man kann denken, das klingt alles gut, aber keine Ahnung wie man hier eine Routine reinbringen soll. Ich weiß gar nicht, wen ich jetzt anrufen soll. Ich habe eh keine Zeit dafür. Wenn mich jemand anruft, drücke ich den weg, weil die mich eh nicht dabei haben wollen. Wenn man solche Gedanken hat, sollte man jetzt kurz raus zoomen und den Teufelskreis erkennen. Hier stimmt was nicht. Ich bin im Kreislauf. Die Überzeugungen, wie ob man eh nicht erwünscht ist, sollte man einfach hinterfragen. Ist das so? Wollen die mich wirklich nicht dabei haben? Woran mache ich das fest? Das gleiche gilt für Begegnungen. Man nimmt wie gesagt Mimik anders wahr. Es ist also wichtig zu fragen, ob die Person jetzt neutral oder misstrauisch war oder ob wie sie drauf war gar nichts mit mir zu tun hatte. War sie gar nicht so negativ? Das klingt recht leicht. Leider ist es das oft nicht, wenn man in dem Kreislauf ist. Daher ist sehr legitim, sich da Hilfe zu suchen. Das ist alles andere als schwach. Es ist mutig. Es gibt Menschen, die Hilfe da in Anspruch nehmen und wieder aus dem Teufelskreis rauskommen. Man kann ihn durchbrechen. Ich möchte hier betonen, dass es nicht nur die persönliche Verantwortung ist, aus dem Einsamkeitsteufelskreis zu kommen, sondern auch eine gesellschaftliche. Es ist wichtig, dass die Entwicklung der Vereinzelung des Menschen auch als Chance der Gesellschaft begriffen wird. Wir können dadurch Sozialität anders denken und uns andere Fragen stellen, andere Wohnräume anpassen. In der Politik sollte das Thema mehr Raum finden. Antistigmatisierungskampagnen werden benötigt, wo die Vermittlung psychischer Gesundheitskompetenz im Fokus steht. Das sollte so früh wie möglich im Leben sein. Man sollte schon als Kind lernen, wie man richtig auf das Einsamkeitssignal reagiert.
I: Das Gespräch mit Anita hielt für mich einige Aha Momente bereit. Einsamkeit ist per se nicht so schlimm, solange sie nicht chronisch wird. Wir hatten wohl alle Phasen in unserem Leben, in denen wir uns mehr oder weniger einsam gefühlt haben. gefährlich wird das, wenn man selbst nicht merkt, dass man in die Abwärtsspirale rutscht und einem der Zoom Out nicht mehr gelingt. Achtet bitte immer darauf, welche Anzeichen ihr bei euch erkennt und greift frühzeitig ein. Sprich mit Leuten, wenn du an dir oder anderen etwas feststellst und zögere nicht, dir professionelle Hilfe zu holen. Das war unsere Folge zum Thema Nähe beziehungsweise Einsamkeit. Wenn sie dir gefallen hat, würden wir uns freuen, wenn du uns auf einem Podcast Player deiner Wahl eine Bewertung hinterlässt. Das geht mittlerweile auch bei Spotify. Abonniere uns, um keine weitere Folge zu verpassen. Die nächste Folge des Gesundheitspodcasts von Achtsam bis Zuckerfrei der Audi BKK erscheint wieder in einem Monat. Habt bis dahin eine gute Zeit und bleibt gesund