Ilka Brühl: Herzlich willkommen zu Von Achtsam bis Zuckerfrei, dem Gesundheitspodcast der Audi BKK. In diesem widmen wir uns einer Vielzahl an Themen, die Körper und Geist betreffen. Ein ganz normaler Tag, morgens um fünf aufstehen, eine ausgeglichene Tagesroutine starten, sich bewegen, gesund essen, tiefgründige Gespräche mit der Familie führen, den Arbeitsalltag meistern und natürlich das Sportprogramm nicht vernachlässigen. Gesund, frisch und regional essen und dabei die sozialen Kontakte keineswegs außer Acht lassen. Ach ja, und eine große Portion Me-Time ist natürlich auch noch irgendwie nötig. In einer Welt, die so schnelllebig und voller Möglichkeiten ist, geraten wir häufig in einen Strudel der Selbstoptimierung. Doch wie können wir einen guten Kompromiss finden zwischen dem, was gesund ist, und dem, was angenehm ist? Ist es eine Illusion, alles unter einen Hut zu bekommen? Sind Vereinbarkeit und Ausgewogenheit nur eine große Lüge? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat, haben wir heute die Expertin Dr. Aylin Thiel eingeladen. Sie ist Psycho- und Traumatherapeutin und hat sich intensiv mit dem Thema der Selbstoptimierung auseinandergesetzt. Wir werden erfahren, warum es kein entweder oder sein muss und warum wir wieder lernen dürfen, mehr auf unser Gefühl zu vertrauen. Hallo, Aylin, wie schön, dass wir dich heute hier im Podcast begrüßen dürfen.
Dr. Aylin Thiel: Ja, vielen Dank für die Einladung.
Ilka Brühl: Super gerne. Wir sprechen ja heute über ein Thema, was hier im Podcast auch schon eine längere Bedeutung hat. Wir hatten schon eine ganze Staffel über Selbstliebe und heute soll es nun um Selbstoptimierung gehen. Oder wann es vielleicht auch zu viel mit der Selbstoptimierung wird. Wie siehst du das? Warum ist das so schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen, diese Mischung aus Selbstoptimierung, es aber auch einfach mal gut sein lassen und Lebensfreude zu empfinden?
Dr. Aylin Thiel: Ja, ich glaube, wir haben heutzutage oft auch eine Balance Schwierigkeit. Auf der einen Seite gibt es hohe Erwartungen, wie ich sein muss, dann haben wir ständige Vergleiche und vielleicht auch die Schwierigkeit, Prioritäten zu setzen. Wir müssen uns klar machen, die meisten Menschen haben heutzutage eine To-do-Liste, die länger ist, als sie die jemals abarbeiten können, und das führt natürlich letztendlich irgendwann zur Stress.
Ilka Brühl: Oh ja, ich glaube, das mit der To-do-Liste kennen wir alle. Da steht so viel drauf, von beruflichen Zielen über körperliche Ziele. Das ist ja ein Riesen Strudel der Selbstoptimierung, in den wir da schnell geraten, und das ist ja eigentlich auch gut. Es ist ja schön, dass wir an uns arbeiten wollen, dass wir uns optimieren wollen. Aber warum ist es auch zum Teil gefährlich?
Dr. Aylin Thiel: Sich Ziele zu setzen und an sich zu arbeiten, ist wichtig und ist natürlich auch prima. Schwierig wird es, wenn wir uns zu sehr selbst optimieren und zu sehr stressen, immer noch besser zu werden, höher, weiter mehr. Dann führt es letztendlich auch im schlimmsten Fall zum Burnout, und damit geht natürlich auch einfach ein Verlust von Lebensfreude einher. Wesentlich ist zu schauen, es gibt viele Dinge, viele Angebote, die wir heutzutage haben und viele Möglichkeiten, aber es ist nicht möglich, auf allen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen Da müssen wir schauen, wie wir Prioritäten setzen, um unsere Lebensfreude zu erhalten.
Ilka Brühl: Du erwähntest ja eben schon einen Burnout. Wie hängen denn eventuell Selbstoptimierung und Burnout zusammen?
Dr. Aylin Thiel: Selbstoptimierung klingt sehr, sehr positiv, und das ist natürlich auch schön. Wenn es das wirklich ist, wenn ich mich liebevoll selbst optimiere, ist das eine tolle Sache, dann ist es schön und führt zu einem guten Gefühl. Aber wenn ich mich selbst kasteie, versuche, immer noch besser werden, mich noch mehr anstrenge und noch mehr leiste, weil ich nicht genug bin, dann kann es natürlich auch zum Burnout führen. Wenn ich immer noch mehr performen muss, damit ich wertvoll bin oder versuche, meinen hohen Ansprüchen gerecht zu werden, damit ich vielleicht keinen Ärger bekomme oder Gefahren abwenden will, kann dasselbe drohen. Wesentlich ist, sich klar zu machen, ein Burnout ist natürlich mit einem sehr, sehr großen Leid verbunden. Meist fallen die Leute dann monatelang aus und können sich kaum noch erholen. Das typische Symptom bei Burnout ist, man schläft und schläft und man erholt sich nicht. Das ist so, weil wir uns vorher zu sehr selbst optimiert haben, zu sehr selbst kasteit. Das ist natürlich die unschöne Seite von zu großer Selbstoptimierung.
Ilka Brühl: Das ist auf jeden Fall noch mal sehr gut zu wissen, dass das eben auch sehr starke negative Konsequenzen haben kann, die wir auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen sollten. Zum Thema Burnout haben wir ja auch schon eine ganze Folge gemacht. Die packen wir euch gerne noch mal in die Show Notes, die könnt ihr euch gerne nochmal anhören. Deshalb, danke für diese Warnung.
Dr. Aylin Thiel: Ich glaube, da sind wir auch nicht wirklich gefeit vor. Das kann prinzipiell jeden treffen. Jeder ist in einem anderen Bereich dafür vielleicht empfänglich. Aber letztendlich bin ich nur dann dafür empfänglich, wenn ich mit mir nicht in Verbundenheit bin. Burnout ist ja so ein Thema, wenn ich mich spüre und wenn ich merke, dass ich gerade erschöpft bin, dann gehe ich irgendwann von der Arbeit nach Hause oder dann höre ich auf. Wenn ich das aber nicht fühle, dann kann ich weitermachen und noch weiter und leiste und performe immer noch für alle anderen, aber merke meine Bedürfnisse überhaupt nicht mehr. Dann bin ich nicht mehr in Verbundenheit mit mir selber. Deswegen ist bei Selbstoptimierung die Verbundenheit mit sich selbst so wichtig, denn dann ist sie schön, und dann ist sie wertvoll und gesund und führt zu einem guten Gefühl. Wir merken dann, wir können uns entwickeln. Das ist wie ein Baum, den wir wachsen sehen wollen. So ein ganz kleiner Samen führt dazu, dass so ein wunderschöner Baum wächst, und das ist ein ganz tolles Gefühl. Das ist ja schön, dass auch wir wachsen, dass wir uns entfalten, dass wir Talente und Fähigkeiten weiterentwickeln. Das ist großartig, wenn ich es mit einer liebevollen Selbstfürsorge oder Selbstoptimierung mache, nicht mit einer Überforderung.
Ilka Brühl: Auf jeden Fall. Kann man denn sagen, dass bestimmte Personengruppen besonders anfällig sind, oder haben wir alle das gleiche Risiko, in diesen Strudel zu geraten?
Dr. Aylin Thiel: Es gibt schon die Perfektionisten zum Beispiel. Wenn ich den Anspruch an mich habe, ich muss alles perfekt machen, ich darf keinen Fehler machen, dann habe ich natürlich erst recht eine hohe Gefahr, in solch einen Stressstrudel oder Burnout zu kommen. Der Leistungsdruck wird immer höher. Man vermeidet vielleicht realistische Ziele und hat immer solche sehr überhöhten Ziele, die man erreichen muss, die aber vielleicht nicht erreichbar sind. Gleichzeitig hat man eine geringe Selbstakzeptanz, und das macht es natürlich dann besonders schwer. Menschen, die sehr viel Selbstliebe oder eine hohe Selbstakzeptanz haben, die können es auch eher annehmen, wenn Dinge noch nicht erledigt sind oder wenn Dinge einfach mal liegen bleiben.
Ilka Brühl: Hohe Selbstakzeptanz ist auf jeden Fall ein schönes Stichwort. Was kann ich denn vielleicht tun, um in der heutigen Zeit ein bisschen mehr zu akzeptieren, wie ich bin, und mich nicht gleich so sehr verunsichern lasse?
Dr. Aylin Thiel: Ich komme ja aus der tiefenpsychologischen Richtung. Was mir wichtig ist, ist natürlich immer auch zu verstehen, woher kommt denn mein Selbstwert überhaupt? Mein Selbstwert kommt daher, wie andere Menschen mit mir umgegangen sind, und zwar meine primären Bezugspersonen. Wenn meine primären Bezugspersonen mir vermittelt haben, dass ich toll und wertvoll bin, dann erlebe ich mich auch genau so. Letztendlich sagt das Gefühl, wie wertvoll ich bin, gar nichts darüber aus, wie wertvoll ich wirklich bin. Wenn man beispielsweise in einem traumatisierten Elternhaus aufgewachsen ist, dann ist der erste Schritt, erstmal zu erkennen, dass das, was mir angetan wurde und was ich erlebt habe, falsch ist. Dass ich liebenswert bin und wertvoll. Dann ist es auch wichtig, erst mal eine Beziehung zu sich aufzubauen, um diese Selbstakzeptanz und Selbstliebe etablieren zu können.
Ilka Brühl: Das klingt total einleuchtend. Das heißt, wenn ich für mich das erst einmal gar nicht akzeptieren kann, dann ist es natürlich auch viel leichter, in so einen Selbstoptimierungsrausch zu geraten, weil ich ja denke, ich bin ungenügend, ich muss mich verbessern.
Dr. Aylin Thiel: Genau, je weniger ich mit mir selber zufrieden bin, desto eher habe ich solch einen Selbstoptimierungsdrang. Dann habe ich das Gefühl, wenn ich das noch mache und das noch mache, dann bin ich gut und dann bin ich wertvoll. Aber der Selbstwert oder die Selbstliebe, die Selbstakzeptanz, das ist ein inneres Gefühl. Das hängt gar nicht so sehr damit zu tun zusammen, was ich wirklich tue und was ich im Außen wirklich erledige. Das ist ein inneres Gefühl, und das muss ich angehen und bearbeiten, und nicht das im Außen.
Ilka Brühl: Ja, ich glaube, das kenne ich auf jeden Fall noch von meiner eigenen Transformation, dass ich damals immer danach gestrebt habe, bestimmte Dinge an mir zu ändern, an meinem Verhalten, an meinem Aussehen. Wenn ich dies erreiche, dann kann ich ja endlich glücklich sein. Dann hatte ich die erreicht und es hatte sich überhaupt nichts an meinem inneren Gefühl verändert. Ich glaube, das ist das beste Beispiel, dass die Selbstoptimierung oft vom eigentlichen Problem auch ablenkt.
Dr. Aylin Thiel: Genau, weil unser inneres Kind oder wir uns klein und wertlos, ungeliebt oder mangelhaft fühlen, machen wir ganz, ganz viel im Außen, um das zu kompensieren. In der Verhaltenstherapie würde man versuchen, mal im Außen ein bisschen weniger zu machen. Aber das innere Gefühl ist ja trotzdem drängend und sagt mir, dass ich etwas tun muss, denn sonst bin ich nicht wertvoll. Deswegen kann ich das nicht aushalten. Aber viel wichtiger ist der Ansatz zu schauen, woher kommt denn mein Gefühl der Wertlosigkeit, was ja nicht wirklich real ist. Das ist vielmehr das Gefühl, nicht wichtig zu sein, keine Komplimente annehmen oder mich nicht so akzeptieren zu können, wie ich bin.
Ilka Brühl: Auf jeden Fall. Wie schätzt du den Einfluss von Social Media darauf ein? Man hört ja immer so viel, dann vergleicht man sich ständig, man rennt falschen Idealen hinterher. Ist das wirklich eine Gefahr für meinen Selbstwert, oder ist es vielleicht sogar positiv?
Dr. Aylin Thiel: Die sozialen Medien und Selbstwahrnehmung ist natürlich ein schwieriges Unterfangen, das ist klar. Ich empfehle immer, sich bewusst mit sozialen Medien auseinanderzusetzen. Online Darstellung und reales Leben sind immer zweierlei. Ich nenne mal ein Beispiel. Wir waren jetzt im Urlaub in Venedig und haben uns das erste Mal ein Mobilehome gebucht. Ich fand das total cool, wir wollten so ein bisschen back to the Roots. Das habe ich aber nicht gepostet. Ich habe bei meinem Instagram Acount auch dazu etwas gepostet. Da war so ein Pool dabei, der war relativ klein. Aber ich habe natürlich nur die schönen Seiten gepostet, und alle haben mir gesagt, was für einen tollen Urlaub ich gemacht hätte. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, und der kann so sehr täuschen. Ich glaube, das ist das Wesentliche. Wir alle kennen das, wenn wir Familienfotos machen mit kleinen Kindern. Es ist ein Katastrophe beim Fotografen, bis man ein schönes Foto bekommt, und im Nachhinein ist das Foto vielleicht toll. Aber es gab so viele Tränen zwischendurch, und ich glaube, das beschreibt Social Media eben auch ganz gut.
Ilka Brühl: Absolut. Ich glaube, das kennen wir alle. Das heißt, Social Media auf jeden Fall mit Vorsicht und Achtsamkeit nutzen, dass man sich genau überlegt, was man da sieht und was es in einem auslöst. Tut es mir gut oder lasse ich es vielleicht lieber phasenweise weg?
Dr. Aylin Thiel: Ja, und auch sich klarmachen, dass das, was ich da sehe, nicht Realität ist. Das ist ähnlich, wie man sich vielleicht von einem brutaleren Film distanzieren und sich klarmachen sollte, dass das nur ein Film ist. Social Media ist nicht die reale Welt, ist nicht real Life. Es zeigt einen Ausschnitt, den wir sehen wollen in dem Moment. Aber es ist nicht eben das komplette Bild. Diese schönen Momente in unserem Leben gibt es ganz genauso, und auch die gilt es wahrzunehmen und zu sehen. Zu sehen, dass wir diese schönen Momente eben auch haben, das kann uns im Sinne von Achtsamkeit helfen, zu schauen, wo sind meine Momente. Wenn ich da jetzt eine Kamera draufhalten würde oder wenn ich da bewusst drauf achten würde, was wäre das, was in meinem Urlaub so besonders ist und so schön ist ? Worauf will ich mir den Fokus legen und mehr achten?
Ilka Brühl: Ist es denn dann trotzdem gut, sich gewisse Ziele zu setzen, oder sagst du, man sollte gar nicht probieren, an sich zu arbeiten?
Dr. Aylin Thiel: Doch, ich finde es total wichtig, dass man sich Ziele setzt und an sich arbeitet. Aber das muss halt immer mit einer gesunden Balance geschehen. Ziele sollen motivieren, aber nicht überwältigen, das ist immer dabei das Wesentliche. Dann kann ich auch eine Langzeitmotivation aufrechterhalten, dass ich Ziele auch wirklich bis zum Ende durchziehe und dann auch Erfolgserlebnisse habe. Das lohnt sich auf Fälle, es ist toll, sich zu entwickeln und zu wachsen.
Ilka Brühl: Auf jeden Fall. Das Gefühl, dass man Ziele erreicht, gibt einem ja auch unglaublich viel. Aber wie schaffe ich es denn, da anzukommen bei dem erreichten Ziel, gerade bei vielleicht einem großen Ziel? Wie schaffe ich es, diese lange Motivation aufrechtzuerhalten?
Dr. Aylin Thiel: Das geht eigentlich nur, indem man sich kleine Ziele setzt und dann immer wieder auch Erfolge feiert. Wenn man einen Marathon beispielsweise laufen will, dann fängt man an mit fünf Kilometer-, zehn Kilometerlauf und so weiter. Dann feiert man seine Erfolge, und bei solchen Äußerlichkeiten können wir das. Wichtig ist auch bei inneren Themen, sich Ziele zu setzen und sich zu feiern. Das ist so wesentlich. Wenn ich das tue und und auch merke, wann ich eine Pause brauche und mir die auch gönnen kann, ohne das Gefühl zu haben, jetzt bin ich gerade faul oder uneffektiv oder arbeite von meiner langen To-do-Liste nichts ab, dann halte ich auch durch. Wesentlich ist natürlich, immer zu schauen, dass die Stimmung in der Summe gut ist. Wenn die Stimmung gut ist, dann halte ich die Programme auch durch. Wenn ich selber zwischendurch mich entweder überfordere oder aber zu lange trieze, dann habe ich irgendwann keine Lust mehr, und dann hören wir auf.
Ilka Brühl: Ja, das ist etwas, was wahrscheinlich auch die meisten kennen. Ich finde Zwischenziele unglaublich wichtig. Das ist etwas, was man so oft vergisst, dieses auch mal Innehalten, den Erfolg feiern. Wie oft denkt man dann, dass man etwas erreicht hat und wie kann man das nächste schaffen? Dabei ist es echt so wichtig, sich einfach mal auf die Schulter zu klopfen.
Dr. Aylin Thiel: Ja, absolut, und ich glaube, das können wir sehr, sehr schlecht. Wir haben früher immer gelernt, dass Eigenlob stinkt, wir dürfen uns nicht selber loben. Wir reden auch nicht darüber, wenn wir unser Haus geputzt haben, dass wir uns großartig, fühlen. Dass wir toll sind, wenn wir es von oben bis unten sauber gemacht haben. Das machen wir nicht, das dürfen wir nicht. Das fällt uns dann natürlich auch schwer, wenn der andere uns auf einmal lobt. Im Komplimente Kleinreden sind wir großartig. Aber das Wesentliche ist ja, zu schauen, was denn meine Stärken sind, und kann ich die annehmen? Dann bin ich mit mir selber im Reinen und mit mir verbunden. Dann merke ich, was ich kann und was ich nicht kann, und wenn ich das spüre, dann bin ich auch nicht so sehr in der Selbstoptimierung.
Ilka Brühl: Ja. Hast du eine Idee, wie man vielleicht dieses Feiern eigener Erfolge leichter hinbekommt?
Dr. Aylin Thiel: Ich glaube, das Wesentliche ist, dass wir uns wirklich kennenlernen. Wir sind 24/7 mit uns zusammen, und es ist so, so wichtig, dass wir wissen, mit wem wir da zusammen sind. Wir wissen oft über die Dinge, die wir tun, viel besser Bescheid. Wir kennen unser Auto besser, wir wissen über Sportarten, die wir treiben, viel besser, viel mehr Bescheid als oft über uns. Unser Blick ist gerade in dieser gestressten, hektischen Zeit, in der wir leben, oft im Außen. Es geht oft um das, was außen um uns herum passiert, aber nicht um das, was in uns passiert und was uns ausmacht. Und wenn ich mich mehr spüre und mehr in Verbundenheit mit mir selber bin, dann hört auch dieser Selbstoptimierungsdrang auf. Ich formuliere es mal anders, ein hoher Selbstoptimierungsdrang zeigt vielleicht auch eher tendenziell, dass ich mit mir nicht verbunden bin.
Ilka Brühl: Wenn ich diese Verbindung herstellen möchte, sagst du, hilft es vielleicht einfach schon, dass man im Alltag mehr Achtsamkeit integriert, dass man mehr innehält und darüber nachdenkt, wie man sich eigentlich fühlt. Oder würdest du eine spezielle Übung empfehlen?
Dr. Aylin Thiel: Was ich total wichtig finde, ist, was viele Menschen auch beschreiben, und ich finde das toll, ich finde es gut. Alles, was in Richtung Meditation und Achtsamkeit und in Verbundenheit mit sich kommt, ist großartig. Egal auf welche Art und Weise, es gibt ganz viele Möglichkeiten. Was ich ganz oft höre, dass Leute dann zum Beispiel morgens eine viertel oder eine halbe Stunde meditieren, das finde ich super. Aber was ich fast noch wichtiger finde, ist, dass wir immer mal wieder, vielleicht jede Stunde mal, mit uns einchecken und schauen, wie es uns eigentlich geht. Dass wir über den Tag verteilt vielleicht nur zehn Sekunden, aber zwischendurch morgens, wenn wir aufstehen, schauen, wie geht es mir? Freue ich mich auf den Tag, und auf was freue ich mich heute? Bin ich noch müde oder bin ich ausgeschlafen? Ganz ohne Wertung, ohne das Gefühl, dass man vielleicht gestern zu spät ins Bett gegangen ist, sondern einfach nur zu merken: "Heute bin ich ein halt ein bisschen müde. Ich passe heute ein bisschen auf mich auf und gehe achtsam mit mir um". Oder zwischendurch auf der Arbeit zu merken, jetzt habe ich ein Meeting, was mir vielleicht Schwierigkeiten bereitet, weil es mit schwierigen Menschen stattfindet oder ein langweiliges Thema oder was auch immer. Aber zu merken: "Ich gehe jetzt in dieses Meeting und ich passe auf mich auf, ich schaue, dass es mir gut geht". Ich finde es wichtiger, wenn man ein Handy hat, sich einzustellen, dass man alle Stunde kurz innehält und schaut, wo man gerade steht. Sich immer mal wieder mit sich selbst zu connecten, das ist das Wesentliche. Damit wir irgendwann dahin kommen, dass wir uns spüren und den Kontakt zu uns wieder haben.
Ilka Brühl: Das finde ich super schön. Ich habe auch genau diese Entwicklung an mir in den letzten Jahren festgestellt und merke auch wirklich, wie gut mir das tut. Dass man nicht so durch den Tag hastet, sondern dass man sich immer wieder fragt: "Bin ich eigentlich gerade glücklich? Was kann ich optimieren?" Das sind ja auch oft Kleinigkeiten. Wie viele Menschen haben das Problem, dass sie zu wenig trinken, und das hatte ich früher auch. Aber seit ich so intensiv auf mich höre, trinke ich gefühlte Liter am Tag, weil ich einfach immer jedes kleinste Anzeichen von Durst wahrnehme und sofort trinke.
Dr. Aylin Thiel: Toll ja, aber ich glaube, darum geht es, dass wir uns mehr wahrnehmen, und da haben wir uns zeitweise einfach völlig verloren. Ich mich selber auch. Ich kenne das auch aus eigener Erfahrung in der Uniklinik am Max-Planck-Institut. Ich habe so viel gearbeitet, ich habe das leidenschaftlich gerne gemacht, aber ich habe so viel gearbeitet, dass ich mich überhaupt nicht mehr gespürt habe. Ich war nicht mehr im Kontakt mit mir selber. Aber das Interessante ist, dass man es nicht merkt, oder das ist vielleicht das Schlimme daran. Wir merken nicht, wenn wir nicht im Kontakt mit uns sind, und entsprechend können wir natürlich auch nichts dagegen unternehmen. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich mich nicht spüre, hätte ich gesagt, das ist Quatsch. Heute weiß ich, dass ich es nicht getan habe.
Ilka Brühl: Ja, ich glaube, das geht vielen so.
Dr. Aylin Thiel: Ich glaube, das ist so die Erschwernis, das, was es so schwer macht. So wie du das beschreibst mit dem Trinken. Heute achtest du darauf und trinkst deutlich mehr. Früher hast du nicht gemerkt, dass du zu wenig trinkst. Es fällt nicht auf, es fällt eher später auf, wenn man dann sehen kann, was man vorher nicht wahrgenommen hat. Da öffnet sich etwas wie so ein neuer Raum.
Ilka Brühl: Das ist richtig. Wenn man dann abends vielleicht völlig ausgebrannt auf dem Sofa sitzt und sich fragt, wo denn die Kopfschmerzen herkommen. Wenn ich jetzt verstehe, dass ich mehr auf mich hören muss, andererseits Ziele aber auch gut sind, weil ich ja auch vorankommen möchte im Leben, wie kann ich es vielleicht schaffen, einen Mittelweg hinzubekommen? Soll ich mich phasenweise einer Sache ganz verschreiben oder immer mal wieder kleine Pausen einbauen? Wie bekomme ich das am besten hin?
Dr. Aylin Thiel: Es ist in Ordnung, wenn ich phasenweise gewisse Dinge tue. Wesentlich ist, glaube ich, wichtig ist immer die Richtung und nicht die Geschwindigkeit, in der wir uns entwickeln. Ich glaube, das ist eher das Wesentliche. Wenn ich ein Ziel habe, dann ist es gut, wenn ich mich in Richtung dieses Ziels bewege, aber ich muss das nicht sofort erreichen. Ist das nachvollziehbar? Die Richtung, finde ich, ist wichtiger als die Geschwindigkeit, und das gibt ein gutes Gefühl, in der richtigen Richtung unterwegs zu sein.
Ilka Brühl: Ja, gerade wenn man dann auch die kleinen Zwischenziele hat, von denen wir vorhin geredet haben, und auch erkennt und wertschätzt, dass man sie erreicht. Dann glaube ich auch, das ist eine sehr schöne Formulierung, dass die Richtung wichtiger ist.
Dr. Aylin Thiel: Die Geschwindigkeit, genau. Das nimmt natürlich auch Stress raus, wenn ich weiß, ja, ich mache das gut und ich habe jetzt manche Dinge vielleicht dreimal besser gemacht als vorher. Manchmal rutsche ich noch, tappe ich noch in irgendein altes Muster rein. Aber es ist okay und ich kann das annehmen. Auch das ist ja ein Erfolg. Ich denke, Veränderung braucht immer Zeit, das müssen wir uns klarmachen. Das ist nie eine Eintagsfliege. Da durchhalten zu können, funktioniert dann, wenn ich mit mir im Reinen bin. Wenn ich merke, dass ich das gut mache. Dann hat man Lust weiterzumachen. Wenn man das Gefühl hat, man kann sich noch so sehr anstrengen, dann wird es irgendwann schwer und man verliert die Lust. Das ist völlig normal.
Ilka Brühl: Ganz genau. Wo du gerade alte Muster erwähnst, wie schaffe ich es denn, wenn ich merke, ich rutsche wieder in so ein altes Muster? Ich wollte beispieslweise weniger Süßigkeiten essen. Jetzt habe ich doch wieder eine ganze Tafel Schokolade gegessen. Natürlich kommt dann sofort dieses schlechte Gewissen. Wie gehe ich denn mit diesem ekligen schlechten Gewissen um?
Dr. Aylin Thiel: Ja, das ist eine gute Frage. Ich glaube, wir alle kennen das, egal aus was für verschiedenen Bereichen unseres Lebens. Wir haben Rückschläge, und zum einen muss ein Umdenken stattfinden, dieses Denken, wir dürfen keine Fehler machen. Ich glaube, wichtig ist das Bewusstsein, Fehler gehören zum Erfolg dazu. Ich glaube, ein großer Tennisspieler, ich weiß nicht, ob es Djokovic oder Nadal oder Federer war, hat gesagt: "Ich habe mehr Spiele in meinem Leben verloren, als ich bisher gewonnen habe". Und das muss man sich klar machen. Dadurch, dass sie verloren haben, haben sie verstanden, was sie falsch gemacht haben und was sie tun müssen. Nur dadurch können wir uns entwickeln. Misserfolg gehört zum Erfolg dazu, und oft ist ja so, dass Misserfolg für uns Versagen bedeutet. Jetzt kann ich auch gleich aufhören im schlimmsten Fall. Anstatt zu sagen: "Ja, das gehört dazu. Ich habe Ziele, die ich mir gesetzt habe, noch nicht erreicht. Da bin ich vielleicht nicht ganz straight gewesen". Aber dann zu sehen, was dazu geführt hat, warum hat man denn diese Tafel Schokolade gegessen? Und dann kann man schauen, vielleicht sind es einfache Themen, man hat sie geschenkt bekommen, und wenn sie dann hier rumliegt, dann isst man sie halt auch. Dann kann man dafür sorgen, dass sie hier nicht mehr herumliegt und man auch nichts mehr kauft. Das ist der leichte Weg. Der andere Weg ist natürlich, zu schauen, wenn ich jetzt besonders viel Stress habe, brauche ich wieder zusätzlich Energie, um mir Energie zuzuführen, damit ich diesen Stress, den ich habe, auch kompensieren kann. Aber auch da bin ich ja wieder einen Schritt weiter mit der Erkenntnis und verstehe, was ich eigentlich brauche. Jeder Misserfolg oder jeder Rückschlag oder Rückschritt, oder wie auch immer man das bezeichnen mag, führt dazu, dass ich mich besser verstehen kann. Das ist immer dann eine Chance, wenn ich mir die Situation anschaue und gucke, was ich daraus lernen kann. Wenn wir uns Fußball anschauen, danach geht der Trainer nach jedem Spiel, auch nach einer Niederlage in die Kabine und sagt: "Okay, Jungs, Mensch, lasst uns mal schauen, was lief gut, was lief nicht gut, und warum lief es nicht gut?", damit es im nächsten Spiel besser läuft. Das ist das Wesentliche. Das brauchen wir für Entwicklung. Aber auch ein Bewusstsein, dass, wenn ich zum Beispiel jetzt abnehmen will oder weniger Zucker essen will, dann gehört dazu, dass es mal einen Rückschritt gibt. Oder dass die Waage mal wieder mehr anzeigt. Das ist völlig okay, und auch da nicht sich mit Frustgefühlen zu strafen, sondern sich klar zu machen, das ist Teil des Weges, und der ist völlig normal. Und den kann ich annehmen, ohne mit mir zu hadern.
Ilka Brühl: Ja, auf jeden Fall. Ich persönlich finde es auch immer total wichtig, dass man dieses Gefühl von Scham dann ablegt, weil das super kontraproduktiv und so ein ekliges Gefühl ist. Dass man sich wirklich von Anfang an sagt: "Ich fange diesen Weg jetzt an, es wird Rückschritte geben", wie du gesagt hast. Wenn das dann der Fall ist, dann analysiere ich das, ich horche in mich hinein, aber ich strafe mich jetzt nicht selber. Ich bin jetzt nicht voller Scham oder Wut. Ich bin dann trotzdem noch ein sehr wertvoller Mensch.
Dr. Aylin Thiel: Unbedingt. Weißt du, das sind ja zwei Dinge. Das eine war das, was wir gerade gesagt haben, das ist das im Außen, dieses sich kognitiv klarmachen, Misserfolg gehört zum Erfolg dazu, und das ist völlig okay und ich darf auch Fehler machen. Ich bin nicht perfekt, und ich bin trotzdem wertvoll. Das andere ist natürlich die Frage, wie kommt es denn eigentlich, dass ich von mir erwarte, perfekt zu sein? Wie kommt es denn eigentlich, dass ich mir nicht zugestehen kann, dass ich dann vielleicht auch mal eine Tafel Schokolade esse und merke, dass ich eigentlich nur ein Stückchen oder einen Riegel essen wollte. Und wie kommt es, dass ich mich da so schlecht annehmen kann? Auch das ist ja eine Chance, nach innen zu fühlen und zu schauen, wo habe ich denn dieses Muster gelernt? Wer war vielleicht überkritisch und streng und hat mich gestraft als Kind? Und wo merke ich, dass ich heute sagen kann: "Ganz, ganz oft ernähre ich mich vielleicht ganz gesund und sehr bewusst und gut und passe gut auf mich auf"? Und dann ist es auch völlig okay, wenn dann mal eine Tafel Schokolade dahingerafft wurde. Aber das Wesentliche ist ja die Frage, kann ich mir dann auch erlauben, Fehler zu machen? Kann ich mich so annehmen? Darf ich Fehler machen? Keiner ist perfekt. Das müssen wir uns klar machen, und das ist ja auch das Schöne, dass wir über unser nicht perfekt sein milder werden und menschlicher und verständiger und und mitfühlender mit anderen. Weil wir wissen, dass es manchmal echt schwer sein kann. Das macht ja was mit uns, und das finde ich das Schöne, dass es zu einer Nähe führt für uns und andere. Aber auch für uns mit uns selber und zu mehr Verständnis und zu mehr Mitgefühl für uns, anstatt uns selber zu strafen.
Ilka Brühl: Super schön, wenn die Menschen in meinem Umfeld, vielleicht sogar die, die dazu geführt haben, dass ich so überkritisch wurde, nun mitbekommen, dass ich mich weiterentwickle. Dass ich vielleicht plötzlich liebevoll zu mir bin, und die gönnen mir das vielleicht unbewusst auch gar nicht. Wie kann ich denn damit umgehen, wenn Menschen mich zu sabotieren versuchen oder mir das nicht gönnen?
Dr. Aylin Thiel: Ja, das ist natürlich total schade, aber wichtig ist dann, andere kann ich nie ändern. Das müssen wir uns immer klarmachen. Den Einzigen, den ich ändern kann, ist der, den ich im Spiegel sehe morgens. Das heißt, wesentlich ist zu schauen, dass ich für mich Grenzen setze. Auch dafür muss ich mit mir verbunden sein und merken, dass mich das jetzt trifft oder verletzt. Grenzen zu setzen, zu sagen: "Manche Muster möchte ich ablegen, dann möchte ich andere Sachen machen jetzt und möchte anders mit mir umgehen". Wenn das nicht respektiert wird, dann ist es wichtig, wie gesagt, das nochmal klarer anzusprechen. Oder es hilft am Ende manchmal einfach nur Distanz. Den anderen kann ich nicht verändern, aber wichtig ist, dass ich mich schütze und auf mich aufpasse. Gerade das ist ja etwas Großartiges, wenn ich es schaffe, mich von den alten Fesseln zu befreien, jemand anders will mich aber in den Fesseln noch gefangen halten. Das ist natürlich so doppelt unschön. Auf der einen Seite geht es ja gerade darum, mich anzuerkennen und zu sehen, was das für ein großartiger Kraftakt war und wie toll und gut es jetzt läuft. Wenn jemand anders mich da immer noch in den Fesseln haben will, ist es natürlich wichtig, mich zu schützen. Wie gesagt, in letzter Instanz hilft meistens nur die Distanz. Was natürlich schade ist. Ich bin natürlich eher immer ein Freund von Brücken bauen, aber manchmal geht es nicht.
Ilka Brühl: Das stimmt. Hast du denn irgendwas, wo du sagst, das ist gerade zu kurz gekommen, was du den Leuten unbedingt noch zum Thema Selbstoptimierung mitgeben möchtest?
Dr. Aylin Thiel: Ich glaube, wichtig ist, wenn wir mehr bei uns sind und mehr mit uns verbunden sind, dann hört diese Selbstoptimierung und das Unzufrieden sein auf. Mal so als Beispiel, was wir alle kennen, ist, dass wir ein Foto von uns sehen und vielleicht denken, wie schrecklich wir darauf aussehen. Das würden wir niemals über einen guten Freund sagen, über jemanden, den wir lieb haben. Niemals würden wir sagen, dass er da schrecklich aussieht. Wenn überhaupt, würden wir sagen: "Oh , da ist jemand schlecht getroffen". Aber über uns schaffen wir das, genau so zu reden, und das ist natürlich nicht fair. Ich bin jetzt seit 23 Jahren mit meinem Mann verheiratet und ich liebe ihn aus ganzem Herzen. Er hat auch seine Fehler, ganz sicher, aber seine Vorzüge sind einfach wundervoll, und die sind mir viel, viel wertvoller und wichtiger als die Nachteile. Da kann ich gut drüber hinwegsehen. Und ähnlich wichtig ist es, dass wir das auch mit uns selber machen. Die Person, die wir lieben, hat auch Fehler. Aber da können wir das, weil die Liebe es ermöglicht, dass wir den Menschen mit seinen Vorteilen sehen, und genau das brauchen wir auch für uns. Wenn wir uns akzeptieren und annehmen, so wie wir sind und uns selber lieben, dann können wir unsere negativen Anteile und unsere Schwächen auch gut akzeptieren und annehmen. Und das macht das Leben so viel schöner.
Ilka Brühl: Und wenn du nun tief verbunden mit dir selbst merkst, dass es eine ganz tolle und bereichernde Folge war, dann abonniere doch den Podcast auf einem Player deiner Wahl und erhalte eine Benachrichtigung, wenn es weitergeht. So verpasst du nicht, wenn es in einem Monat wieder Zeit ist für Von Achtsam bis Zuckerfrei, dem Gesundheitspodcast der Audi BKK. Wir hoffen, die Folge hat dir gefallen, kannst sie auch gerne weiter empfehlen, und ansonsten hören wir uns wieder in einem Monat. Bleib gesund, und bis dann.