Ilka Brühl: Herzlich willkommen zu, von Achtsam bis Zuckerfrei, dem Gesundheitspodcast der Audi BKK. In diesem widmen wir uns einer Vielzahl an Themen, die Körper und Geist betreffen. ADHS ist in den letzten Jahren sehr präsent in den sozialen Netzwerken geworden. Lange Zeit ist die Forschung davon ausgegangen, dass ADHS vor allem Kinder betrifft. Heute weiß man, dass auch die Krankheit viele Menschen noch als Erwachsene begleitet. Bei einigen wird es sogar erst dann diagnostiziert. Da die Symptome weit über den klassischen Zappelphilipp hinausreichen können, ist es manchmal gar nicht so leicht. Deshalb sprechen wir in der heutigen Folge mit Lukas Maher darüber, wie man Anzeichen für ADHS erkennen kann, welche Auswirkungen auf das Leben es eventuell mit sich bringt und wie man es gegebenenfalls behandelt. Denn Lukas ist Psychotherapeut und wurde selbst mit ADHS diagnostiziert. Hallo Lukas, herzlich willkommen bei uns im Podcast.
Lukas Maher: Hallo, vielen Dank für die Einladung.
Ilka Brühl: Ich würde heute gerne mit dir über ADHS sprechen. In dem Moment, wo ich es gerade sage, merke ich direkt wieder, dass es nicht wirklich ADHS heißt. ADHS sage ich immer, aber man liest ja auch manchmal die Schreibweise mit dem H in Klammern oder ADS. Ist es das gleiche?
Lukas Maher: Man kann es mit einem H in oder ohne Klammern setzen. Das hat historische Gründe. ADS ohne H ist eher eine veraltete Bezeichnung. Das liegt daran, dass man früher gesagt hat, dass es ADHS mit und ohne Hyperaktivitäten gibt. Heute weiß man aber einfach mehr und kann sagen, dass es auch Menschen gibt, die eher hypoaktiv sind, also starke Symptome im Bereich der Unaufmerksamkeit haben. Diese sind sehr stark nach innen hin abgelenkt. Sie schauen nicht aus dem Fenster, sondern brauchen viel Zeit, um Aufgaben zu vervollständigen oder um Antworten zu geben. Diese künstliche Trennung hat man irgendwann überwunden und gesagt: "Der Schirmbegriff ist ADHS", mit dem H in Klammern, wenn man möchte oder nicht, und es gibt verschiedene Typen, wo Symptome vermehrt auftreten. Bei ADHS haben wir Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Mittlerweile gibt es auch noch so etwas wie emotionale Dysregulation, wie Stimmungsschwankungen und so etwas. Aber im Grunde haben wir einmal die ersten drei. Dann gibt es verschiedene Typen, die unterschieden werden können. Es gibt den Typ, der vorwiegend Symptome von Unaufmerksamkeit zeigt, dann den, der eher hyperaktive, impulsive Symptome zeigt und Mischtypen. Das hat die Beschreibung von ADHS abgelöst. Obwohl es noch Leute gibt, die es gerne verwenden, ist der Schirmbegriff jetzt ADHS.
Ilka Brühl: Danke für die Erklärung, das fand ich sehr verständlich. Wie würdest du denn jemanden, der noch nie davon gehört hat, in drei Sätzen beschreiben, was ADHS überhaupt ist?
Lukas Maher: In drei Sätzen.
Ilka Brühl: Es können auch fünf werden.
Lukas Maher: Es gibt verschiedene Perspektiven auf ADHS. Wenn ich es aus der klinischen Perspektive beschreibe, würde ich sagen, dass es eine neurologische Entwicklungsstörung ist, die in der Kindheit beginnt, von Unaufmerksamkeit, Überaktivität, Impulsivität gekennzeichnet ist und auch emotionaler Dysregulation. Das ist erst einmal ADHS. Wenn man das Ganze aus der Perspektive der Neurodiversität betrachtet, würde man sagen, dass ADHS eigentlich nur eine Abweichung von einer neurologischen Norm ist. Menschen mit ADHS haben eine andere Gehirnentwicklung oder erleben die Welt anders und treten anders mit der Welt in Kontakt. Sie haben ein eher interessenbasiertes Nervensystem und sind durch Interesse, Neugier, Wichtigkeit und Dringlichkeit zu motivieren. Deshalb machen viele ihre Aufgaben immer erst am Ende der Deadline, während andere eher auf Belohnung und Bestrafung gut reagieren, ist das bei ADHS weniger so. Je nachdem, aus welcher Perspektive ich ADHS betrachte, ist es entweder eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich über die gesamte Lebensspanne zieht, oder einfach eine Variante der Gehirnentwicklung. Das kommt auch immer darauf an, wie sehr der Mensch beeinträchtigt ist. Das waren jetzt ein bisschen mehr als fünf Sätze.
Ilka Brühl: Ja, war aber wunderbar und wieder sehr spannend. Für mich als Laien klang es gerade so bisschen, als ob man es danach unterscheidet, ob man es selbst für sich überhaupt als Beeinträchtigung sieht. Ist es denn als Krankheit zu zählen? Oder kann man sagen: "Ich habe es, aber es beschert mir eigentlich keine Nachteile. Ich muss nur mein Leben anders gestalten." Ist das richtig?
Lukas Maher: So kann man das durchaus sagen. Das eine ist, dass ich mich in den Aspekten von ADHS wiederfinde, aber aus verschiedenen Gründen keine Diagnostik mache. Diese Gründe können sehr individuell sein. Entweder braucht man gar keine Behandlung oder möchte vielleicht auch keine offizielle Diagnose haben. Oder man sagt, dass die Diagnostik nicht für alle Menschen gleich zugänglich ist. Gerade Frauen fallen eher durch das Raster. Und dann gibt es aber auch Menschen, die vielleicht als Kind eine Diagnose bekommen haben und damit ganz gut leben können. Sie haben entweder gelernt damit zu leben, weil sie immer eine medikamentöse Behandlung hatten oder ein gutes soziales Umfeld, das sie unterstützt, hatten. Sie würden dann vielleicht sagen, dass es etwas ist, was zu ihnen gehört, sie zwar etwas anders funktionieren und andere Dinge benötigen, aber sich nicht als krank empfinden. Während es andere Menschen gibt, die extrem unter ADHS leiden, weil sie sich vielleicht in ihrem Bürojob nichts merken können, ständig abgelenkt sind, das Sitzen sie anspannt und sie häufiger mit Kollegen in Streitigkeiten geraten. Dann ist es auch in Ordnung, von einer Störung zu sprechen, die diagnostiziert und behandelt wird. Es ist, glaube ich, wichtig, dass wir das mit den Menschen besprechen, weil ADHS sehr unterschiedlich ist.
Ilka Brühl: Das habe ich auch schon mitbekommen. Ich folge auf Instagram einigen Leuten, die im Laufe der Zeit herausgefunden haben oder es lange wussten, dass sie das haben. Da sind die Symptome komplett unterschiedlich. Das finde ich immer wieder spannend. Was mich zu der nächsten Frage überleitet: Dadurch, dass ich vielleicht auch in dieser Bubble drin bin, wo Leute einfach sehr offen darüber reden können, was sie haben, wie es ihnen geht, habe ich manchmal fast den Eindruck, ich übertreibe jetzt extra, dass es gerade wie ein Trend ist, ADHS zu haben. Natürlich sagt beim Gehirn mir aber sofort: "Wahrscheinlich sind einfach die Informationen heutzutage so viel besser, dass mehr Leute, die es haben, es richtig diagnostizieren können." Was ist da deine Einschätzung?
Lukas Maher: Ich glaube, das ist erst mal etwas sehr Kompliziertes, weil durch dieses höhere Bewusstsein vielleicht auch mehr Menschen darauf kommen, dass sie davon betroffen sein können, ohne dass sie starke Einschränkungen davon haben. Andererseits bekommen andere wiederum mehr Plattformen, die vielleicht vorher keine Stimme hatten. Dann gibt es natürlich noch Leute, die Social Media gar nicht nutzen und in diesem Diskurs gar nicht stattfinden. Insofern ja, es gibt vor allem bei den spät Diagnostizierten mehr Diagnosen. Ich glaube, dass gerade bei Frauen immer noch ein Nachholbedarf ist. Es gibt Hinweise darauf, dass wir vielleicht die Diagnose bei Jungen zu häufig vergeben. Man kann aber auch sagen, dass gerade der unaufmerksame Typ bei erwachsenen Männern häufiger übersehen wird. Es ist ein bisschen kompliziert. Die einen sagen, dass es auch soziale Ansteckung sein könnte. Das heißt, ich schaue mir ganz viel zu dem Thema ADHS an, identifiziere mich damit immer mehr und verhalte mich auch dementsprechend, indem ich meine Unaufmerksamkeit und Unordentlichkeit mehr betone als vorher. Andere wiederum sagen, dass es auch Homophilie sein könne und wir uns eher mit Leuten umgeben, die uns ähnlich sind. Häufig sind Menschen mit ADHS in einer Beziehung mit jemandem, der auch irgendeine Form von Neurodivergenz, sei es Autismus oder ADHS, hat. Also, das ist gar nicht so einfach zu sagen. Für diejenigen, die eher nicht die klassischen Symptome von ADHS erfüllen, sei es, weil sie eher diesen unaufmerksamen, träumerischen Typ haben oder weiblich sozialisiert sind, ist es richtig, dass es jetzt mehr Diagnosen gibt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es in manchen Gruppen zu viele Diagnosen gibt.
Ilka Brühl: Das ist auf jeden Fall auch eine Antwort, die das aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Ich finde es gut, dass man da jetzt ein breiteres Bild gewonnen hat. Du sprachst gerade schon von den verschiedenen Symptomen. Mich würde erst einmal der Unterschied zwischen Erwachsenenalter und Kind interessieren. Gibt es da vielleicht Unterschiede in dem Verlauf? Später auch gerne, ob es zwischen Männern und Frauen Unterschiede gibt.
Lukas Maher: Die Symptome können über das Leben hinweg dieselben sein. Du hast auch schon gesagt, dass Menschen sehr unterschiedlich sein können, was ADHS angeht. Allgemein kann man schon sagen, dass sich bestimmte Symptome im Laufe des Lebens verbessern. Dabei ist nicht ganz klar, ob die Menschen lernen, damit besser umzugehen, was gut wäre oder ob sie die Symptome unterdrücken. Gerade Symptome von Hyperaktivität, scheinen mit dem Alter ein bisschen abzunehmen, weil wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben, ruhig sitzen zu bleiben und uns zu konzentrieren. Oder zumindest so zu tun, als könnten wir ruhig sitzen bleiben und dadurch vielleicht auch weniger auffallen. Andererseits gibt es viele Menschen, bei denen die Hyperaktivität gar nicht so sichtbar ist, weil sie zwar sitzen bleiben können, aber im Muskeltonus und motorisch total angespannt sind. Dann sieht man das nicht, aber sie sind trotzdem angespannt. Das ist ein bisschen die Frage, mit der man sich beschäftigt. Die Studien sagen schon, dass ein großer Teil eine Symptomverbesserung im Laufe des Lebens erfährt. Das ist vor allem so, wenn die Diagnose schon als Kind gestellt wurde und vielleicht durch Ergotherapie, Psychotherapie, Medikamente behandelt wurde. Andere sagen, dass wir vielleicht nur gelernt haben, uns ein bisschen unsichtbar zu machen. Ich glaube, die Wahrheit liegt in der Mitte. Wenn ich von mir ausgehe, ich habe die Diagnose auch, stelle ich fest, dass sich meine Hyperaktivität in vielen Bereichen verbessert hat. Ich war als Kind sehr, sehr wild, aber dass ich auch in Bürojobs, wenn ich jetzt lange sitzen müsste, dass mir das dann sehr schwerfällt und ich dann schon aus der Unterspannung bin. Es ist irgendwie beides. Wenn ich jetzt noch auf den Unterschied von Männern und Frauen schaue, dann ist es auch so, dass die Symptome eigentlich gleich wären, wenn nicht das Thema Sozialisation wäre. Wir werden ja alle ein bisschen in bestimmte Geschlechterrollen durch Erziehung und soziale Einflüsse herein erzogen. Das beeinflusst schon, wie Menschen Symptome zeigen. ADHS wurde ursprünglich vor allem bei verhaltensauffälligen Jungen beobachtet, die hyperaktiv und impulsiv waren, die im Unterricht nicht aufgepasst haben, nach draußen geschaut haben. Jungen wird in ihrer Sozialisation so etwas auch eher zugestanden. Sie sollen ja wild sein, wenn sie klein sind. Zumindest, wenn man das traditionell sieht. Bei Frauen und Mädchen ist es so, dass sie eher kooperativ und zurückhaltend sein sollten. Sie sollten nicht unangenehm auffallen. Das führt dann wahrscheinlich dazu, dass viele Mädchen eher Symptome zeigen, die nach innen gehen. Also eher so dieses träge, verträumte, leicht Ablenkbare, aber nach innen hin. Von den eigenen Gedanken abgelenkt zu werden, ist etwas, was viele beschreiben. Sie kauen eher an ihren Fingernägeln oder wippen mit den Zehen, brauchen lange, um ihre Schulaufgaben zu verrichten. Dann fallen sie gar nicht auf, weil wir häufig noch die Idee von dem sogenannten Zappelphilipp haben, der auf Mädchen nicht unbedingt zutrifft. Die Studien zeigen schon, dass Mädchen, wenn sie in eine Diagnostik empfohlen werden, meistens viel mehr Symptome als ein Junge haben müssen, damit sie überhaupt auffallen. Weswegen auch 75 Prozent der weiblichen Betroffenen ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter erhalten. Man merkt, dass sie einfach durch das Raster fallen.
Ilka Brühl: Es ist aber auch einleuchtend, wie du es beschreibst, weil es ist ja nun einmal so, dass wir so sozialisiert werden, wie du es beschrieben hast. Es ist einleuchtend, aber trotzdem schade, dass es so ist. Immerhin ist es bewusst und man achtet wahrscheinlich heutzutage mehr darauf. Was würdest du denn generell empfehlen? Wahrscheinlich die Merkmale, die du eben beschrieben hast. Wenn Eltern bei ihren Kindern darauf achten und feststellen, ob die Kinder sehr zappelig oder in sich gekehrt sind oder wie können Eltern da vorgehen?
Lukas Maher: Das ist erst einmal gar nicht so einfach, weil ich glaube, dass wir von der Seite der Behandler*innen erst einmal unsere Diagnostik sensibilisieren müssten, weil es häufig so ist, dass Mädchen und auch später Frauen bestimmte Grenzwerte in solchen Fragebögen oder Interviews nicht erfüllen, weil das Interview an sich statistisch eher auf einen Jungen oder einen Mann ausgelegt ist. Ich glaube, da müssen wir für die besondere Symptomäußerung bei Frauen und Mädchen sensibler werden, aber auch wie das Thema Maskierung aussehen kann. Wenn man gelernt hat, diese Sachen zu unterdrücken, kann es sein, dass man selbst als Frau und Mädchen gar nicht weiß, dass es ADHS sein könnte, weil man gelernt hat, das nicht zu zeigen. Häufig haben Frauen dann Angststörungen. Auch wenn die Angststörung behandelt ist, bleibt trotzdem eine innere Unruhe, von der keiner genau weiß, wo die herkommt. Das ist, glaube ich, das eine, wozu Aufklärung dient. Ich glaube, für Eltern könnte es wichtig sein, sich mit ADHS erst einmal auseinanderzusetzen. Wir haben immer die Vorstellung von einem Zappelphilipp und Hyperaktivität, aber es gibt das genaue Gegenteil. Gerade Betroffene, die eher das unaufmerksame Symptombild zeigen, haben auch häufiger ein verlangsamtes kognitives Tempo. Sie wirken dann träge, langsam, schwer zu motivieren. Sie geben ganz langsame Antworten, brauchen ganz lange, um ihre Schulaufgaben zu beenden. Da würde man ja nicht an ADHS und einen Zappelphilipp denken, sondern eher das Gegenteil. Aber auch das kann ein Zeichen dafür sein, dass sie nach innen hin sehr abgelenkt sind und keinen klaren Gedanken fassen können. Insofern, sollte man sich nicht von Stereotypen leiten lassen und sich gut über ADHS informieren. Das würde ich Eltern raten, die bei ihren Kindern bemerken, dass es zum Beispiel im Schulalter nicht so ganz passt.
Ilka Brühl: Das ist auf jeden Fall ein sehr guter Tipp. Du hast gerade schon die Angststörung erwähnt. Ich wollte dich sowieso noch fragen, welche Rolle Begleiterkrankungen, wie Angststörungen oder Depressionen, spielen.
Lukas Maher: Sie spielen eine sehr hohe Rolle. Je nachdem, welche Studien man anschaut, haben 19 bis 53 Prozent, was eine große Spanne ist, die Menschen mit ADHS auch einmal Depressionen. Bis zu 60 Prozent haben eine Angststörung. Bei Frauen ist das die häufigste Begleiterkrankung oder Begleitstörung, die es gibt. Aber auch Suchterkrankungen sind ein häufiges Thema, was daran liegt, dass die Betroffenen aufgrund dieses Dopamindefizits sich auch ein bisschen selbst mit gesundheitlich negativen Folgen medizinieren. Aber Begleiterkrankungen, komorbide psychische Störungen, spielen bei ADHS durchaus eine große Rolle.
Ilka Brühl: Habe ich mir leider auch schon gedacht. Aber es ist natürlich schrecklich, wenn man sowieso schon sein Päckchen zu tragen hat und es kommt immer noch mehr obendrauf. Aber dann weiß man vielleicht auch, dass man da ganz besonders hinschauen muss und sich gegebenenfalls im richtigen Moment Hilfe holt, was natürlich immer schwieriger ist, als man jetzt so sagt.
Lukas Maher: Was ich noch so zum Thema Psychotherapie sagen möchte, ist, dass häufig ADHS auch erst im Rahmen einer Psychotherapie auffällt. Wir haben natürlich einerseits den Trend, dass Menschen sagen, sie glauben, dass sie ADHS haben und dadurch in ihrer Lebensführung eingeschränkt sind. Sie suchen eine Diagnostik, bekommen eine medikamentöse Behandlung oder machen vielleicht noch etwas anderes, was erst einmal in Ordnung ist. Der andere Fall ist aber, dass man eine Angststörung behandelt und merkt: Komisch, die Angststörung ist an sich ist zwar verschwunden, aber die innere Unruhe und dieses leicht Erregbare ist trotzdem da. Es gibt kein Trauma und man kann es sich sonst auch nicht erklären. Dann fängt man vielleicht an, auch einmal an eine ADHS-Diagnostik zu denken. Dann ist es wichtig, dass man nach einem positiven Ergebnis oder wenn beide Diagnosen da sind, als Behandler und Behandlerin gut darüber informiert ist, weil man natürlich auf bestimmte Sachen achten muss. Wenn ich jetzt einen Menschen mit ADHS und Angststörung habe, weiß ich, dass ich bestimmte therapeutische Methoden ein bisschen anpassen muss. Oder dass ich, wenn ich mit Arbeitsblättern arbeite, was vor allem die Verhaltenstherapeut*innen machen, diese für Menschen mit ADHS vielleicht ein bisschen anpassen muss, damit er die auch liest. Es geht auch viel um den Umgang mit Langeweile und sich gut konzentrieren zu können, wenn etwas neu, wichtig und vielleicht auch visuell gut aufbereitet ist. Das ist auch bei anderen Störungsbildern wichtig. Bei Essstörungen ist es so, dass Menschen mit ADHS auch ohne Essstörung Schwierigkeiten haben, auf regelmäßige Ernährung zu achten. Das Medikament kann dabei helfen, kann das aber auch ein bisschen verschlimmern, weil man dann erst einmal kein Hungergefühl hat. Das macht natürlich Essanfälle wahrscheinlicher. Dann muss man draufschauen, ob es die Binge-Eating-Störung ist oder Essanfälle im Rahmen von ADHS. Was kann man vielleicht mit einer Anpassung an bestimmte Lebensbedingungen schon positiv verändern, was die Symptomatik angeht. Ich glaube, da macht es einfach Sinn, dass man immer beides mitdenkt.
Ilka Brühl: Es ist immer wieder interessant, wie viel ich in einer Folge selbst lerne. Ich dachte, wir können den groben Überblick in einer halben Stunde abhandeln, aber man könnte logischerweise wahrscheinlich Wochen darüber reden. Es ist wirklich spannend.
Lukas Maher: Die Therapiemethoden sind auch sehr unterschiedlich. Wir wissen, medikamentöse Behandlung ist erst einmal das Mittel der ersten Wahl. Das sollte man den Leuten auch anbieten. Die Mittel der ersten Wahl wären wahrscheinlich gesellschaftliche Anpassungen und Medikamente, aber das ist vielleicht Zukunftsmusik und nur, wenn die Leute es wollen und vertragen. Dann gibt es Psychotherapie. Die kognitive Verhaltenstherapie ist recht wirksam, was die Vermittlung von Tools, Psychoedukation und den Umgang mit Organisationen, Emotionen, Impulsivität oder sozialen Kompetenzen angeht. Da gibt es Wirksamkeitsbelege für die Verhaltenstherapie. Ich selbst bin systemischer Therapeut und schaue mir vor allem das Thema Familien und Angehörige an. Die systemische Therapie fokussiert soziale Beziehungen. Wir sagen, dass es der Person mit Diagnose besser geht, wenn Menschen in guter Beziehung zueinander stehen und Probleme zusammen gut bewältigen können. Häufig ist es so, dass Menschen mit ADHS stärker unter Paarkonflikten und Spannungen in Freundeskreisen und am Arbeitsplatz leiden. Da macht es schon Sinn, relevante Bezugspersonen zum Beispiel mit in eine Paartherapie mit einzubeziehen. Das wäre dann der andere Fokus. Als Drittes können wir noch über die psychodynamischen Therapien sprechen. Da bin ich nicht versiert drin, macht aber sicherlich Sinn, weil auch einige Menschen mit ADHS unter einer Persönlichkeitsstörung leiden und es da sicherlich Sinn macht, das Ganze einmal ein bisschen langfristiger zu betrachten. Was ich aber noch nennen würde, wären Gruppentherapien, weil gerade für spät Diagnostizierte sich ein Gefühl durch das Leben gezogen hat, dass man irgendwie anders ist. Gerade in Gruppentherapien ist das etwas, das auch aufgegriffen wird. Ein Gefühl von Zugehörigkeit, was über das Knüpfen von Kontakten hinausgeht. Zum Aufbau von Selbstmitgefühl gehört irgendwie, dass ich meine Schwächen gut akzeptieren kann, damit ich freundlich mit mir bin, auch wenn es einmal nicht gut läuft. Der dritte Aspekt von Selbstmitgefühl ist allgemeine Menschlichkeit, also sich menschlich verbunden zu fühlen. Das ist natürlich etwas, was man mit einer Gruppentherapie bei ADHS, wo sich Gleichgesinnte treffen, durchaus erreichen kann. Das sind die Behandlungsmethoden, die man anbieten kann. Es gibt dann auch noch Ergotherapie oder Neurofeedback, wo man an Alltagsfähigkeiten arbeitet. Am Neurofeedback kann man trainieren, die Aufmerksamkeit besser zu halten. Das ist aber sozusagen noch etwas Zusätzliches zu dem, was es an Psychotherapie und medikamentöser Behandlung gibt.
Ilka Brühl: Was hast du denn für Leute als Rat, die Angehörige oder Partner von ADHS-Betroffenen sind?
Lukas Maher: Ich würde ihnen raten, sich erst einmal gut über ADHS zu informieren, weil häufig mehr Wissen hilft, bestimmte Verhaltensweisen der Störung zuzuschreiben und nicht dem Menschen. Wenn ich nicht zuhöre, bin ich nicht ignorant und böse, sondern es hat vielleicht damit zu tun, dass ich vor allem nach einem langen Tag sehr wenig Aufmerksamkeitsressourcen habe und es dann schneller passiert. Deshalb ist ja auch ADHS keine Erkrankung im eigentlichen Sinne, sondern eine Störung. Also eine Abweichung von einer bestimmten Norm. Das heißt, die Menschen gehen anders mit ihren Aufmerksamkeitsressourcen und ihren exekutiven Funktionen um. Neben dem, sich damit auseinanderzusetzen, finde ich es auch immer gut, wenn Leute mit in eine Therapie kommen, wenn das möglich ist, weil man dann auch Konflikte, die es durchaus gibt, gut besprechen kann. Also keine falsche Scheu vor einer Paartherapie oder einem Setting mit mehreren Personen. Ich finde es auch wichtig, dass Menschen, die mit ADHS-Erkrankten zusammen sind, auch auf ihre eigenen Bedürfnisse achten. Man sollte nicht auf die Idee kommen, sich und seine eigenen Bedürfnisse immer zurückzunehmen, weil die andere Person so ist, wie sie ist. Die Diagnose an sich ist eine Erklärung und Einladung, sich damit auseinanderzusetzen, aber sie ist keine Entschuldigung für Verhalten, das beispielsweise eine andere Person verletzt.
Ilka Brühl: Was kann ich tun, wenn ich auf der Arbeit merke, dass ich mich schlecht konzentrieren kann? Kann ich meine Aufmerksamkeit verbessern? Kann ich das trainieren? Hast du da Tipps für Leute?
Lukas Maher: Das kann man durchaus mit den besagten Therapiemethoden. Man kann vielleicht im Beruf auch Anpassungen bekommen, dass man eher Tätigkeiten macht, die einem liegen. Oder man wechselt den Beruf. Das ist natürlich nicht für alle möglich, aber man sollte immer die gesamte Palette an Möglichkeiten in Betracht ziehen. Dann gibt es noch ein Thema, das ich eher unter der Kategorie Lebensstil subsumieren würde. Je nachdem, in welche Szene mal schaut, wird der Lebensstil manchmal auch ein bisschen übertrieben dargestellt. Gerade in der Fitness-Szene. Aber bei ADHS wissen wir schon, dass Ernährung, Bewegung und Schlafgewohnheiten durchaus auch einen Einfluss auf Konzentration und innere Unruhe und Gereiztheit haben können. Noch stärker als bei Menschen, die kein ADHS haben. Wer schlecht schläft, ist, ob ADHS oder nicht, gereizter, unaufmerksamer und auch ein bisschen angespannt, wenn das häufiger vorkommt. Bei Menschen mit ADHS verschlimmert das natürlich Symptome, die schon da sind. Dazu kommt, dass viele ADHSler häufig einen nicht so erholsamen Schlaf haben. Bewegung, vor allem Ausdauertraining, kann sich positiv auf die Aufmerksamkeit, Stimmungen beziehungsweise Hyperaktivität auswirken. Wenn jemand sich nicht gut konzentrieren kann und unruhig ist, könnte man auch einmal schauen, wie das Bewegungsverhalten in den letzten Wochen war. Vielleicht bekommt die Person einfach zu wenig Bewegung? Ernährung spielt da auch eine Rolle. Das hatten wir an der anderen Stelle schon, dass viele ADHSler keine richtige Mahlzeiten-Struktur haben und auch gut ihre Hunger- und Sättigungssignalewahrnehmen können. Das braucht eine gewisse Form von Achtsamkeit. Es kann schon dazu führen, dass man mit leerem Magen den ganzen Tag arbeitet und sich wundert, warum man sich ab 14:00 Uhr nicht mehr konzentrieren kann. Da spielt auch eine Ernährung eine Rolle. Es kann auch sein, dass ich abends dann einen Essanfall bekomme oder ganz viel esse, vielleicht auch relativ spät. Dann schlafe ich natürlich schlechter und die Symptome verschlimmern sich auch. Was ich mit Klient*innen mache, sind die Basics, wie ich es nenne. Den Lebensstil anzuschauen und zu überlegen, ob es Sachen gibt, die man anpassen kann. Die Arbeitsumgebung kann man sicherlich anpassen, indem man Handys und alles Mögliche weglegt. Aber kann man vielleicht auch dazu beitragen, dass der Lebensstil insgesamt ein bisschen mehr Routine bekommt, sodass ich die Symptome mit den anderen Sachen, die ich sowieso schon mache, besser managen kann?
Ilka Brühl: Das klingt doch aber eigentlich ganz hoffnungsvoll. Klar, muss man sich im Leben ein bisschen arrangieren, aber ich finde, es klingt, als ob man es ganz gut schaffen kann.
Lukas Maher: Ja, das würde ich auch sagen. Natürlich bleibt es so, dass ADHS eine Abweichung von einer Norm ist. Sei es eine neurologische Norm oder eine Norm, die Störung und Nichtstörung definiert. Das kann Schwierigkeiten machen, aber es kommt immer auf die individuelle Person, ihre Umstände, ihre Ressourcen, auf die Unterstützung, die sie hat, und auch auf die Bereiche, in denen man ansetzt, an. Deshalb bin ich eher hoffnungsvoll, dass es da immer irgendetwas gibt.
Ilka Brühl: Du selbst wurdest ja auch mit ADHS diagnostiziert. Gibt es daran etwas, was du als Vorteil siehst?
Lukas Maher: Man sagt ja Leuten mit ADHS immer nach, dass sie kreativ sind und aufgrund der Impulsivität schnelle Entscheidungen treffen. Jetzt haben wir ja schon gelernt, dass ADHSler auch sehr verschieden sein können. Aber ich würde sagen, in meinem Fall ist das Thema, schnelle Entscheidungen nach dem Bauchgefühl zu treffen und die Liebe für Kreativität etwas, was mein Leben sehr bereichert. Bereich hat. Ich glaube, sonst würde ich auch kein Social Media machen und würde mich auch sonst für andere Sachen gar nicht so interessieren. Da, glaube ich, ist es auf jeden Fall eine Ressource von mir.
Ilka Brühl: Hast du sonst abschließend noch etwas, was du unseren Hörerinnen und Hörern mitgeben möchtest?
Lukas Maher: Ich finde es wichtig, sich von den langen Wartezeiten einer Diagnostik nicht abschrecken zu lassen, weil ADHS eine Diagnose ist, die man ein Leben lang hat. Klar kann man sagen, dass ein Jahr bis zwei Jahre unverschämt lange ist. Geduld ist sowieso nicht so leicht, wenn man ADHS, auch wenn es wichtig ist. Aber diese Geduld lohnt sich in aller Regel, auch wenn es schwer ist. Man kann vielleicht eher überlegen, wie man die Zeit bis dahin gut nutzen kann, indem man sich informiert, vielleicht schon einmal bei einer Selbsthilfegruppe anfragt oder vielleicht schon nach einem Psychotherapieplatz guckt. Insofern sollten sich Betroffene, die einen Verdacht haben, nicht von den langen Wartezeiten abschrecken lassen.
Ilka Brühl: Das war die Folge zum Thema ADHS. Passende Leistungen der Audi BKK findest du übrigens in der Podcast-Beschreibung. Beziehungsweise den Shownotes. Wenn dir die Folge gefallen hat, würden wir uns riesig freuen, wenn du uns weiterempfiehlst, uns eine positive Bewertung hinterlässt und natürlich den Kanal abonnierst, um keine Folge mehr zu verpassen. Ansonsten heißt es in einem Monat wieder, es ist Zeit für von Achtsam bis Zuckerfrei, deinem Gesundheitspodcast der Audi BKK.