Essstörungen: Mehr als "Probleme" mit dem Essen.
I: (Musik) Herzlich willkommen zu „Von Achtsam bis Zuckerfrei“, dem Gesundheits-Podcast der Audi BKK. In diesem widmen wir uns einer Vielzahl an Themen, die Körper und Geist betreffen. Herzlich willkommen, liebe Hörerinnen und Hörer, zur letzten Folge vor Weihnachten. Auch heute haben wir wieder ein spannendes Thema für euch, nämlich Essstörungen. Natürlich können wir das Thema hier nicht in Gänze behandeln. Doch wir wollen euch einen ersten Überblick geben, damit ihr anschließend vielleicht für euch oder eine andere Person wisst, was die Anzeichen sind und wo ihr weitere Hilfe bekommen könntet. Für die fachliche Expertise haben wir heute Unterstützung von Frau Carolin Martinovic, die beim Therapienetz Essstörung arbeitet und dort als Geschäftsleitung für ambulante Angebote tätig ist. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin und hat sich weitergebildet in systemischer Therapie. Hallo Frau Martinovic. Wie schön, dass Sie sich vor Weihnachten noch die Zeit nehmen konnten. Herzlich willkommen in unserem Podcast.
B: Ja vielen Dank, liebe Frau Brühl. Hallo, liebe Hörerinnen und Hörer, sehr gerne. Schön, dass ich heute dabei sein kann.
I: Heute haben wir ja ein ganz wichtiges Thema, nämlich Essstörungen. Und die meisten Menschen hatten ja auch schon mal eine Phase, nehme ich jedenfalls an, in der sie auch unzufrieden mit ihrem Körper waren und da vielleicht etwas daran ändern wollten. Also ich kenne jedenfalls sehr, sehr viele Menschen in meinem Umfeld, die irgendwann mal unzufrieden mit sich waren. Jetzt ist natürlich die Frage, gerade vielleicht auch so, wenn mal eine stressige Phase ist und ich da zu Nervennahrung greife oder so, ist das dann schon bedenklich? Weil auf der anderen Seite zeigen Studien ja auch ganz klar, dass Essstörungen zunehmen. Also ab wann zählt etwas überhaupt als Essstörung?
B: Das ist eine sehr spannende Frage. Also letztendlich haben Sie vollkommen recht. Ich glaube, die meisten Hörerinnen und Hörer haben sich gerade schon so ein bisschen ertappt gefühlt. Weil natürlich, es gehört einfach mit dazu, dass wir über Essen oder nicht Essen ja in bestimmten Lebenssituationen reagieren. Also manche reagieren in Stresssituationen oder Belastungssituationen ja dadurch, dass sie mehr essen, dass sie gar nicht mehr aufhören können zu futtern. Andere berichten: Ah nein, wenn ich nervös bin oder belastet bin, bekomme ich gar nichts mehr herunter. Und auch so das, was Sie schildern, dieses sich mal unwohl fühlen und irgendwie versuchen, ja über ein bisschen Essensveränderung eventuell auch Figur und Gewicht zu beeinflussen, gehört in unseren Zeiten ja fast schon dazu. Und so lange das, ich sage mal, noch im Rahmen ist oder eben in so bestimmten besonderen Phasen vorkommt, ja gut, dann ist das einfach so. Tatsächlich zum Problem oder auch von einer Essstörung sprechen wir dann, wenn sich das eben über einen längeren Zeitraum fortsetzt. Beziehungsweise auch ganz klar dann, wenn die betroffenen Personen merken, ihr Leben wird dadurch beeinträchtigt und in den meisten Fällen wirklich auch, ja, schlechter. Letztendlich dann, wenn ich zum Beispiel merke: Oh, ich bin körperlich nicht mehr so fit, ich merke körperliche Einschränkungen. Ich bin vielleicht nicht mehr so leistungsfähig oder habe tatsächlich körperliche Beschwerden. Aber auch, wenn das soziale Leben oder ich sage mal, das normale Leben sich verändert. Ich habe nicht mehr so viel Zeit für meine Freunde, Freundinnen, ich vernachlässige meine Hobbies. Ich kann mich in Schule, Ausbildung, Beruf gar nicht mehr so gut konzentrieren, weil sich letztendlich meine gesamten Gedanken, mein Lebensinhalt nur noch um dieses Thema essen, nicht essen, Figur, Gewicht, abnehmen, zunehmen dreht. Dann sind wir in der Regel leider schon im Bereich der Essstörungen und dann ist so das Entscheidende: Merke ich das selber und kann ich noch was verändern? Also in dem Moment, wo ich merke: Okay, da beeinträchtigt mich jetzt plötzlich was, was ich so eigentlich gar nicht mehr möchte. Wenn ich es dann noch verändern kann, bin ich wieder auf einem guten Weg heraus aus der Essstörung. Aber oftmals ist es ja leider so, dass es ja gerade einfach ja auch der Sinn ist, dass ich mich vielleicht gar nicht mehr so um die schlimmen Dinge in meinem Leben kümmern muss, sondern ein Ausweichobjekt habe. Ich kann mich um meinen Körper kümmern. Das heißt, ich merke vielleicht gar nicht, dass es mich belastet und steuere dann viel weiter in diese Essstörung noch hinein.
I: Sehr spannend. Sie haben ja eben schon die verschiedenen Muster angesprochen. Manche greifen dann eher zum Essen, andere essen gar nichts. Was für Arten von Essstörung gibt es denn?
B: Letztendlich unterscheidet man zwischen drei großen Essstörungsgruppen. Das ist einmal die Anorexie, die Magersucht, die Bulimie, die sogenannte Ess-Brech-Sucht. Und dann gibt es eben noch die sonstigen Essstörungen beziehungsweise die nicht näher bezeichneten Essstörungen. Hier fällt zum Beispiel die Binge-Eating-Disorder darunter, aber auch die sogenannte psychogene Adipositas. Also dieses übermäßige Essen, eben auch aus psychischen Ursachen. Und dann gibt es noch zig Untergruppen. Also es gibt dann auch noch die atypische Anorexie, atypische Bulimie. Das ist letztendlich dann, wenn ich die Essstörung zuvor nicht hundertprozentig einer dieser Gruppen zuordnen kann. Aber das geht viel zu sehr in das Detail. Letztendlich unterscheiden wir immer zwischen diesen drei Hauptgruppen, die ich gerade genannt habe.
I: Sie haben gerade schon angesprochen, dass sich manche vielleicht auch nicht einer klaren Kategorie zuordnen lassen. Das führt schon so ein bisschen zu meiner nächsten Frage. Mich hätte nämlich interessiert, ob das immer so klar trennbar ist. Also bin ich immer ganz klar nur magersüchtig oder kann das vielleicht auch irgendwie eine Kombination aus verschiedenen Essstörungen sein?
B: Also eine Kombination eigentlich eher nicht, aber die Übergänge sind fließend. Und es wird in der Fachwelt auch schon ganz lange diskutiert, dass es eigentlich unsinnig ist, dass es da wirklich so unterschiedliche Bezeichnungen gibt, ob es jetzt eine Magersucht ist oder eine Bulimie. Letztendlich kommt es darauf an, da ist ein Verhalten, dass mich selber beeinträchtigt, mit dem ich ja meine Gesundheit auch ein Stück weit beeinträchtige. Das ist eine Essstörung. Ob es da eine Magersucht ist oder eine Bulimie, das ist vielleicht für die eine oder andere Betroffene, für den einen oder anderen Betroffenen ja vom Gefühl her wichtig. Aber eigentlich entscheidend ist, das ist eine Essstörung, die einfach Unterstützung und Behandlung bedarf.
I: Und wenn ich mir jetzt Gedanken mache, sei es für mich selbst oder für andere Leute, was denn die Anzeichen sein können. Also wie finde ich heraus, ob ich selbst oder jemand, der mir nahesteht, eine dieser Essstörungen haben könnte?
B: Also ein Merkmal, dass man wirklich bei allen Essstörungen merkt, ist, dass die Gedanken wirklich nur noch oder sehr viel um dieses Thema Aussehen, Essen, Abnehmen, Zunehmen kreisen. Also letztendlich, der Fokus geht wirklich auf das Äußere, geht auf das Thema Essen. Gerade, wenn wir so im Magersucht-, bulimischen Bereich sind, ist den Betroffenen ganz, ganz wichtig, Körpergewicht zu reduzieren. Also diesem gängigen Schönheitsideal ein Stück näherzukommen, schlank zu sein, trainiert zu sein, muskulös zu sein. Das heißt, Essverhalten verändert sich dahingehend, dass es ja entweder eingeschränkt wird, dass immer weniger gegessen wird oder nur noch sehr bestimmte Nahrungsmittel. Das oftmals auch eingeteilt wird in erlaubte Nahrungsmittel und verbotene, dass die Lebensmittelauswahl sich immer mehr einschränkt. Und das heißt, dass die Betroffenen dann im Zweifel auch immer dünner werden. Oder wenn dieses Essverhalten schon sehr früh einsetzt, einfach nicht mehr weiter zunehmen, aber eben noch weiterwachsen. Oder aber ja, das ist, wenn wir so im bulimischen Bereich sind, so in Essattacken mündet, wo die Betroffenen sehr, sehr viel essen und dann eine sogenannte gegensteuernde Maßnahme ergreifen. Ich habe es ja gerade schon gesagt, auch die Betroffenen möchten eigentlich eher ihren Körper in Richtung Schönheitsideal beeinflussen, also eher schlank, trainiert sein. Da würde natürlich ein übermäßiges Essen in Form einer Essattacke dagegensprechen. Also wird eben eine gegensteuernde Maßnahme ergriffen. Das kann, wie es ja auch schon im Name steckt, das Erbrechen sein. Das kann aber auch übermäßiger Sport sein, das kann Hungern sein, das kann Missbrauch von Medikamenten sein et cetera. Also letztendlich alles, was dazu führt, diese Essattacke, dieses übermäßige Essen wieder loszuwerden. Und im Binge-Eating-Bereich und in der psychogenen Adipositas beobachten wir grundsätzlich, dass es zu einem gesteigerten Essverhalten kommt. Entweder auch in Form von Essattacken, wo es dann aber keine gegensteuernden Maßnahmen gibt, aber auch so ein permanentes Essen. Also ein ständiges nebenher essen oder ein ständiges größeres Portionen essen, als ich es eigentlich vom Hunger und Sättigungsgefühl her bräuchte. Das heißt, es verändert sich Essverhalten in die eine oder in die andere Richtung. Es verändert sich aber auch das soziale Verhalten, wie gesagt, mit einer Bewusstseinseinschränkung, mit einem ja nur noch konzentrieren auf Aussehen und Gewicht. Und gerade auch, wenn wir bei der Anorexie sind, ganz gefährlich in einem Bereich, wo ich mich plötzlich selber nicht mehr richtig wahrnehmen kann. Das ist die sogenannte Körperschema-Störung. Und das ist insofern gefährlich, weil die Betroffenen ihren eigenen Körper nicht mehr richtig einschätzen können. Das heißt, sie empfinden sich selber immer als wesentlich dicker als sie sind. Versuchen dann natürlich noch weiter gegenzusteuern, durch Hungern, durch Sport et cetera noch weiter abzunehmen und landen dann eben eventuell auch in einem bedrohlichen Untergewichtsbereich.
I: Ja das, einiges kennt man ja so, weil man ja natürlich auch schon viel gehört hat. Etwas anderes war mir jetzt auch noch in dem Detail gerade neu, ist ganz spannend. Also gerade auch-. Ich habe das Gefühl, dass die meisten Menschen eher über Magersucht informiert sind als über die anderen beiden Bereiche. Deswegen war für mich jetzt auf jeden Fall schon mal was Neues dabei. Und da liegt mir schon die nächste Frage auf der Zunge. Ist es etwas, was eher schleichend passiert und deswegen noch schwerer zu erkennen ist? Oder gibt es da oft so ein bestimmtes Ereignis, was dazu führt, dass es jetzt losgeht mit so einer Essstörung?
B: Sowohl als auch. Also letztendlich gibt es nie nur einen Grund oder eine Ursache, warum eine Person eine Essstörung entwickelt. Wir in der Beratungsstelle beschreiben das so, dass es tatsächlich wie so ein Puzzle ist, wo sich einzelne Teile zusammensetzen müssen, die dann das Gesamtbild der Essstörung ergeben. Es gibt schon sehr häufig sozusagen einen Moment, der bildlich das Fass zum Überlaufen bringt. Also so eine Situation, wo es dann vielleicht tatsächlich losgegangen ist. Aber im Zweifel ist es eher schleichend, entwickelt sich beziehungsweise ergibt sich einfach aus der Lebenssituation. Denn wir hier in der Beratungsstelle im Therapienetz Essstörung verstehen eine Essstörung immer als Lösungsversuch. Also irgendwas im Leben läuft nicht so, wie ich das möchte, wie ich es geplant habe und ich muss irgendwie darauf reagieren. Und da kann eine Essstörung ein Lösungsversuch sein. Leider aber einer, der natürlich noch mehr Probleme mit sich bringt.
I: Das heißt, eigentlich wollen die Leute nur quasi selbst wieder die Kontrolle übernehmen. Sehe ich das so gerade richtig?
B: Letztendlich ja. Genau das ist auch die Krux an der Essstörung, dass ich versuche, Kontrolle in meinem Leben wiederzuerlangen und das vermeintlich über das Essen, über Gewicht, Figur. In Wahrheit aber eigentlich die Essstörung die Kontrolle übernimmt. Denn irgendwann mache ich tatsächlich alles nur noch, was mir diese Essstörung sozusagen einflüstert. Ich hungere oder ich erbreche oder ich esse viel zu viel. Aber eigentlich, Sie haben vollkommen recht, aus dem Versuch heraus, etwas wieder selbst kontrollieren zu können oder eben Lösungen für eine ausweglose Situation zu finden.
I: Ja das ist auf jeden Fall sehr spannend. Ich hatte ein Interview mit einer Person gelesen, die mal betroffen war und die gesagt hat: Man wehrt sich auch am Anfang so dolle dagegen, wenn dann die Diagnose gestellt ist und andere einem das dann in Anführungszeichen wegnehmen wollen. Also man richtet sich ja auch so in seiner Essstörung ein und hat eben dann die Kontrolle vielleicht in diesem Bereich über sein Leben, diese vermeintliche Kontrolle. Und dass man deswegen gar nicht unbedingt positiv reagiert, wenn dann jemand mit Hilfsangeboten um die Ecke kommt. Deswegen stelle ich mir das auch gar nicht so einfach vor. Wie ist das denn bei Ihnen, wenn jetzt jemand auf Sie zukommt. Geht das dann meistens von den Patientinnen und Patienten selbst aus oder ist es das Umfeld?
B: Also in den allermeisten Fällen kommen die Betroffenen tatsächlich aus eigenem Antrieb. Weil sie einfach an einem Punkt sind, wo sie merken: Ja auf der einen Seite ist dieses Essproblem eine Lösung oder auf der einen Seite habe ich vermeintlich das Gefühl, etwas kontrollieren zu können. Aber eben doch irgendwann merken, nein es kippt. Oder einfach, wie ich es vorhin auch schon erwähnt habe, körperlich merken, dass es ihnen nicht mehr gut geht. Es gibt aber auch die Fälle, und das ist dann gerade bei den Jüngeren, wo vielleicht erst mal tatsächlich die Eltern das Gespräch mit uns suchen. Oder Partner, Partnerinnen, Schulfreunde, Freundinnen, die einfach schon merken: Mensch, mit meiner Freundin, mit meiner Tochter, mit meinem Sohn stimmt irgendwas nicht. Aber der oder die Betroffene kann das noch gar nicht so richtig benennen oder wie Sie es gerade auch sehr schön geschildert haben. Wenn wir davon ausgehen, dass so eine Essstörung ein Lösungsversuch ist, dann ist es natürlich erst mal auch total bedrohlich, wenn plötzlich jemand von außen kommt und sagt: Hey, ich will dir das wegnehmen. Du darfst so nicht mehr weitermachen, weil du dadurch vielleicht krank wirst oder weil du deine Figur et cetera kaputtmachst. Das heißt, es ist ganz, ganz wichtig, da ganz verständnisvoll heranzugehen und da wirklich auch dem Betroffenen damit zu begegnen, zu sagen: Ja ich verstehe, dass das einen Grund hat, warum du das so tust, wie du es tust. Auch, wenn ich es vielleicht nicht nachvollziehen kann oder vielleicht auch ein bisschen irritiert bin. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Betroffenen mit Bulimie das ganz, ganz lange verschweigen und sie sagen: Ich kann doch nicht offen und ehrlich jemanden erzählen, dass ich mich freiwillig übergebe. Da sagen doch alle, oh bist du eklig und warum machst du das denn? Und das Entscheidende ist ja, das machen die Betroffenen ja auch eben aus einem Grund. Unsere deutsche Sprache ist ja da auch sehr bildlich. Und man hat ja auch das Sprichwort so, eine Situation zum Kotzen zu finden. Ja, Betroffene von Bulimie leben in einer Situation, in einem Umfeld, wo es wortwörtlich gerade zum Kotzen ist. Wo sie für sich eben dadurch eine Möglichkeit gefunden haben, mit Stress, Kummer et cetera umzugehen. Und das darf ich nicht einfach wegnehmen. Es geht darum, gemeinsam dann zu überlegen: Was gibt es denn für Alternativen? Wie kann ich denn anders mit diesen Problemen umgehen? Und sich ganz langsam da heranzutasten, dass die Betroffenen dann für sich auch irgendwann freiwillig und eigenmotiviert sagen können: Ja, ich möchte was Neues ausprobieren.
I: Ja. Würden Sie denn dann Betroffenen genau das sagen oder haben Sie vielleicht noch irgendein Beispiel oder so, was Sie denen manchmal an die Hand geben, damit man sich so ein bisschen in diese Gedankenwelt einer Person mit Essstörungen hineinversetzen kann. Weil auch die Interviews, die Artikel, die ich jetzt als Vorbereitung gelesen habe, da war immer wieder das Problem, dass die Betroffenen einfach nicht verstehen konnten, warum man überhaupt so denkt und warum das so ein Riesending im Kopf ist. Die sagen einfach: Dann iss doch einfach wieder und so. Ja so einfach ist es ja nun mal nicht.
B: Nein, leider nicht. Wenn es so (lachend) einfach wäre, dann bräuchte es so Anlaufstellen wie uns nicht und auch diese ganze therapeutische Unterstützung. Denn letztendlich geht es nicht um das Essen. Das Essen ist sozusagen nur das Symptom. Das Essen ist nur die Möglichkeit, über die ich eben versuche, Emotionen zu regulieren. Also letztendlich ist ja tatsächlich das Phänomen, dass dahinter steckt zum Beispiel bei der Magersucht. Wenn ich nichts mehr esse, wenn ich so in das Untergewicht komme, dass ja der Körper gar nicht mehr in der Lage ist, Leistung im vollen Umfang zu erbringen. Das heißt auch, der Kopf, der Geist, können sich gar nicht mehr so gut konzentrieren. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Die ganzen Sachen, die mich belasten, über die ich mir vielleicht Gedanken machen müsste, dafür habe ich gar nicht mehr die Kraft. Das geht alles so ein bisschen, ja so, wird so verschwommen beziehungsweise ich kann mich einfach auf was anderes konzentrieren. Also ich konzentriere mich einfach nur noch darauf, wie ich weiter abnehmen kann und muss mich mit dem ganzen anderen Negativen gar nicht mehr beschäftigen. Oder wie ich es gerade auch schon angedeutet habe bei der Bulimie. Ich kann erst mal mit der Essattacke, mit diesem übermäßigen Essen ja meinen ganzen Kummer, meine ganzen Sorgen wie unter so einem Essensberg begraben. Also letztendlich das, was wir in Ihrer Eingangsfrage schon geschildert haben, was im Kleinen ganz, ganz viele von uns kennen. Essen tröstet, Essen lenkt ab, Essen beruhigt. Das ist das, was ich dann in einer Essattacke für mich nutzbar mache. Und dann aber durch die gegensteuernde Maßnahme das auch nochmal weiter verschärfe. Dadurch, dass ich vielleicht durch Erbrechen oder übermäßigen Sport einfach auch die Möglichkeit für mich sehe, Druck, Spannung et cetera abzuladen. Oder auch eben, es gibt ja auch ein weiteres Sprichwort, wenn ich das zitieren darf. Jemandem seine Sorgen vor die Füße kotzen, heißt ja eigentlich, verbal sich auskotzen. Also das heißt, mit jemandem darüber sprechen, dass es mir nicht gut geht, dass ich Sorgen habe. Wenn ich das aber nicht kann, weil vielleicht niemand da ist oder weil ich glaube, mir würde niemand zuhören und mich würde niemand ernst nehmen, dann suche ich mir einen anderen Weg, wie ich das tun kann. Also das heißt letztendlich, es geht immer darum, Gefühle, Emotionen, die ich nicht anders ausdrücken kann, über Essen oder Nicht-Essen zu regulieren. Und dabei ist aber, wie gesagt, das Essen oder Nicht-Essen eigentlich nur die Methode. Es geht nicht um tatsächlich das Essen.
I: Ja. Das war auf jeden Fall sehr eindrücklich. Jetzt habe ich auch ein bisschen mehr verstanden, dass es so ist wie bei Symptomen. Dass ich einfach, wenn ich mir eine Kopfschmerztablette einwerfe, dann ist vielleicht in dem Moment der Schmerz weg, aber definitiv nicht die Ursache. (B: Ganz genau, ganz genau.) Und genauso ist es dann da ja auch.
B: Ja.
I: Ja, sehr spannend. Wie ist das denn? Sie hatten vorhin schon angesprochen, dass manche auch ja sehr junge Menschen betroffen sind. Gibt es ein Alter, in dem das in der Regel anfängt?
B: Also problematisches Essverhalten oder auffälliges Essverhalten kann man tatsächlich teilweise auch schon bei Kleinkindern beobachten. Wir haben zwar heute schon mehrfach gesagt, essen ist einfach eine Möglichkeit, auf Belastung zu reagieren, wenn es irgendwo Probleme gibt. Und es erleben ja auch schon ganz Kleine, wenn es zu Hause vielleicht irgendwie Streit und Stress in der Familie gibt oder irgendwelche Konflikte da sind, dass ja auch kleinere Kinder dann schon ein auffälliges Essverhalten entwickeln können. So tatsächlich, wenn wir jetzt im Essstörungsbereich sind, also von Magersucht, Bulimie et cetera sprechen, sind wir ja bei einem Alter, wo wir sagen, so ab leider zehn, ja zwölf kann das tatsächlich schon losgehen. Das heißt, auch schon sehr junge Jugendliche oder teilweise auch Kinder sind eben schon betroffen von dieser Idee, Gewicht, Körper, Aussehen kontrollieren zu müssen. Und dann gibt es aber eigentlich keine Grenze nach oben. Also das heißt, eine Essstörung kann letztendlich auch in jeder Lebensphase auftreten.
I: Haben Sie das Gefühl, dass die sozialen Medien das nochmal verstärken?
B: Auf alle Fälle leider ganz klar. Also die sozialen Medien, gerade ja mit diesem Schönheitsideal, dass da propagiert wird. Oder beziehungsweise erst mal so mit dieser Idee aus den sozialen Medien, Aussehen ist das Wichtigste auf der ganzen Welt. Es gibt nichts Wichtigeres, als irgendwie gut auszusehen oder sich permanent um das eigene Aussehen zu kümmern. Und dann natürlich auch noch so diktiert wird: Und was ist denn gutes Aussehen. Also es ist ja bei den Frauen und Mädchen sehr oft dieses sehr schlanke, wobei mittlerweile durchaus auch schlank und trainiert muskulös in Kombination. Und bei den Jungs und Männern ja tatsächlich auch eben dieses muskulöse Bild. Das heißt, da wird etwas geprägt, ja was eigentlich so, wie es uns in den Medien dargestellt wird, von den allerwenigsten erreicht wird, es aber behauptet wird: Nur, wenn wir so aussehen, wenn wir diesem Ideal entsprechen, könnten wir erfolgreiche sein, wären wir beliebt. Was natürlich völliger Humbug ist, aber einen massiven Druck ausübt.
I: Auf jeden Fall. Das kenne ich aus meiner Kindheit und Jugend auch noch sehr. Also das ist wirklich massiv, was da für ein Druck aufgebaut werden kann. Damals waren es dann vielleicht noch nicht Instagram und Co, sondern Fernsehformate. Aber der Effekt ist ja letztlich der gleiche. Und ich glaube, im Internet ist es noch gefährlicher, weil es so greifbar wirkt. Es ist ja eben das Mädchen von nebenan, könnte es jedenfalls sein. Und im Fernsehen hatte ich da immer noch so einen gewissen Abstand zu. Also ich glaube auch, das ist gar nicht so einfach. Aber haben Sie denn da auch vielleicht eine Empfehlung, wie man die sozialen Medien ein bisschen vorsichtiger konsumieren kann? Oder wie man sie auf eine Weise nutzt, die einem guttut?
B: Ja das ist eine ganz schwierige Frage. Ich denke, dass das Wichtigste ist, sich wirklich bewusst zu machen, dass es da in erster Linie um Unterhaltung geht. Also letztendlich das, was Sie gerade auch beschrieben haben. Früher war das halt eine Schauspielerin oder ein Model, dass ich vielleicht mal in der Zeitschrift gesehen habe oder im Fernsehen. Und da war es klar, das hat wenig mit meiner eigenen Lebenssituation zu tun. Jetzt ist es ja vielleicht sogar die Schulfreundin oder das Mädchen zwei Klassen über mir. Der Junge in der Parallelklasse, der plötzlich vermeintlich ja so ein ganz tolles Leben führt. Und ich denke, das Wichtige und das Entscheidende ist, sich das bewusst zu machen. Sagen, das ist Schein, da wird ganz viel inszeniert, da wird ganz viel auch nachgeholfen und die meisten kennen das ja eigentlich auch selber. Also viele nutzen ja zum Beispiel auch irgendwelche Programme zum Retuschieren ihrer eigenen Fotos, ihrer eigenen Videos. Und das, was wir da gerade in diesen sozialen Medien auch sehen, da ist ganz, ganz wenig wirklich real. Also wenn ich mir anschaue, dass zum Beispiel ja bei den meisten Selfies, bei den meisten Fotos, dass das perfekte natürliche Foto bis zu fünfzig Aufnahmen braucht, bevor es angeblich perfekt, spontan ist, wird mir deutlich, da wird etwas inszeniert. Das hat mit dem wahren Leben nichts zu tun. Und wenn ich mir das bewusst mache und sage: Die verwenden da wahnsinnig viel Zeit und es wird ganz viel geschummelt, kann ich mir die Sache vielleicht schon ein bisschen anders angucken und kann da mit ein bisschen Abstand herangehen. Ich muss für mich meinen Weg finden. Natürlich, das will ich gar nicht abreden, ist Aussehen, ist etwas, worauf ja doch viele auch Wert legen. Und letztendlich ja auch was Schönes, wenn man da auch Freude hat, sich selber vielleicht schön zu kleiden oder schöne Frisuren zu machen et cetera. Aber es darf eben nicht Lebensinhalt werden. Es darf nicht sein, dass das mein komplettes Leben beeinflusst.
I: Ganz genau und Aussehen kann ja auch ganz unabhängig von der Figur wahnsinnig schön sein. Da kann man vielleicht auch gucken, dass man einfach mal schaut, dass man ganz bewusst Leuten folgt, die nicht immer nur dem vielleicht mal gängigen Schönheitsideal mit ja dünn und muskulös entsprechen. Sondern, dass man auch guckt, ja die Frau finde ich jetzt auch schön und die hat vielleicht mehr meine Figur oder ist kurviger oder in welche Richtung es dann auch immer geht.
B: Ja, auch das finde ich ganz, ganz wichtig, also sich selber auch zu überlegen: Das, was da propagiert wird, entspricht das denn auch meinem Empfinden? Also ganz oft ist es ja so, dass wir uns gar nicht mehr trauen, irgendwie zu sagen: Hoppala, nein. Also die Person, die ich da sehe, eigentlich finde ich die gar nicht wirklich schön. Ich finde die vielleicht zu dünn oder vielleicht auch ja schon fast übertrieben muskulös. Also letztendlich ist ja das das Schöne, Geschmäcker sind verschieden. Wie Sie es gerade ganz richtig gesagt haben, es gibt zig unterschiedliche Figuren. Es gibt, Gott sei Dank, ganz, ganz viele Frisuren, Figuren, Menschen, Hautfarben et cetera. Und so vielfältig, wie sich da das Bild darstellt, so vielfältig sind auch die Geschmäcker. Und wir trauen uns irgendwie gar nicht mehr zu sagen: Nein, also das, was da angeblich als schön propagiert wird, nein, empfinde ich gar nicht. Ich mag vielleicht ja eine andere Figur, ein anderes Aussehen. Wie Sie auch sagen, dann vielleicht auch sich zu trauen oder auch zu schauen, eher solchen Leuten zu folgen, das wirklich auch zu unterstützen. Also dass wir auch viel mehr ja Vielfalt und Unterschied auch in den Medien wieder sehen können. Das wäre natürlich gerade auch für die jüngeren Zuhörer und Zuhörerinnen ganz wichtig, denen einfach auch zu zeigen: Schaut mal, das Leben ist bunt, ist vielfältig und hier seht ihr auch die entsprechenden Bilder.
I: Absolut, das haben Sie superschön gesagt. Also dem kann ich mich nur anschließen. Was mir gerade durch den Kopf gegangen ist, weil wir jetzt auch mehrfach von jungen Frauen geredet haben. Wie ist denn da so die Aufteilung? Von meinem Bauchgefühl her haben viel mehr Frauen eine Essstörung und Mädchen. Ist das so?
B: Ja. Also wenn wir uns die Zahlen so anschauen, ist das tatsächlich so. Das entspricht auch genau den Zahlen, denen wir hier bei uns in der Beratungsstelle begegnen. Wir haben so circa zehn Prozent der Ratsuchenden, das sind bei uns Jungs und Männer. Also neunzig bis sogar teilweise hundert Prozent sind es Frauen und Mädchen. Ich mag diesen Zahlen aber nicht so ganz glauben. Denn wenn die Jungs und Männer bei uns in der Beratungsstelle sitzen, erzählen die schon sehr häufig wirklich von Odysseen, die sie hinter sich haben. Also erzählen von zig Arztbesuchen, bis irgendwie mal jemand auf die Idee gekommen ist: Mensch, das könnte auch ein Essproblem sein. Sprich, was ich damit sagen möchte, ist, dass ich glaube, dass es bei Jungs und Männern noch ganz, ganz häufig nicht erkannt wird. Leider ist es immer noch so ein bisschen in den Köpfen verankert, Essstörung sei eine Frauenkrankheit, was überhaupt nicht stimmt. Eine Essstörung hat mit dem Geschlecht überhaupt nichts zu tun. Wir haben natürlich ein bisschen mehr dieses Gefährdungspotenzial, dass einfach bei Frauen und Mädchen mehr auf das Aussehen wert gelegt wird. Wobei auch das in den letzten Jahren sich immer mehr aufweicht. Also auch für Jungs und Männer wurde der Druck immer mehr erhöht. Auch Jungs und Männer müssen jetzt halt einem Ideal nacheifern. Deswegen glaube ich, dass es viel mehr Jungs und Männer gibt, die betroffen sind, die sich aber, ja entweder noch nicht angesprochen fühlen. Oder die sich teilweise vielleicht auch noch nicht trauen, Unterstützung zu suchen, weil sie eben glauben: Oh je, ich würde da an einer Frauenkrankheit leiden. Völliger Schmarrn. Also wie gesagt, das kann ich wirklich nur als Ammenmärchen abtun. Das stimmt nicht. Und vielleicht auch sich scheuen, erst recht noch Unterstützung zu holen. Und auch da kann ich wirklich nur appellieren. Eine Essstörung ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Es ist aber leider auch nichts, was man alleine in den Griff kriegt. Deswegen, Unterstützung ist ganz, ganz wichtig. Und es ist ganz toll, ich ziehe da wirklich immer noch meinen Hut vor jeder Person, die da zu uns in die Beratungsstelle kommt, um Unterstützung bittet. Das ist ein absolutes Zeichen von Stärke. Es ist ein Zeichen, dass man sich selber ernst nimmt. Also von daher wirklich der Appell, sich die Unterstützung zu holen. Nicht auch Schwäche, sondern aus absoluter Stärke heraus.
I: Ja das kann ich absolut unterschreiben. Also ich könnte mir auch gut vorstellen, dass die Dunkelziffer da bei Jungs und Männern auf jeden Fall noch größer ist, als man denkt. Einfach, weil es so viele Gründe gibt, wie Sie auch gesagt haben, dass es noch nicht so üblich ist, dass man das dann sagt, dass es diagnostiziert wird. Also da wette ich auch, dass durch den offeneren Umgang mit dem Thema da bestimmt sich das auch noch weiterentwickeln wird, dass es einfach irgendwann normaler wird. Auch für Jungs und Männer, dass sie das dann sagen können. Und deswegen an alle, die das gerade hören, bitte auch bei den Jungs und Männern genau hinsehen. Und weil Sie gerade die Therapie schon angesprochen haben. Wie ist es denn, wenn ich den Verdacht habe, vielleicht jetzt auch gerade erst mal bei jemandem in meinem Umfeld. Wie mache ich das denn, dass ich die Person nicht sofort verschrecke? Weil ich meine, hätte jetzt sofort Angst, dass ich irgendwas anspreche und die Person dann so abblockt, dass ich ihr Vertrauen verliere und ich ihr gar nicht mehr helfen kann. Wie gehe ich denn da vor?
B: Das ist ganz richtig so, wie Sie das schildern. Und das ist leider auch der Grund, warum viele sich nicht trauen, die betroffenen Personen anzusprechen. Und das möchte ich aber gleich vorneweg nochmal dazu sagen: Wenn ich den Verdacht habe, dass jemand aus meinem Umfeld eine Essstörung hat, dann bitte ansprechen. Das ist ganz, ganz wichtig, denn ich habe es eingangs schon gesagt. Manchmal haben die Betroffenen für sich noch gar nicht selber gemerkt, dass es tatsächlich ein Essproblem ist, unter dem sie da leiden. Umso wichtiger ist, dass von außen der Blick darauf gewandt wird. Und aber und da bin ich auch gleich bei meiner Empfehlung, dass es mit Verständnis aufgenommen wird. Also das heißt, wenn ich die Person anspreche, ist es ganz, ganz wichtig, das erst mal in einem geschützten und ruhigen Rahmen zu machen. Also unter vier Augen, dass das niemand anders mitbekommt, dass man wirklich in Ruhe sprechen kann. Denn es ist ein schambesetztes Thema, das sollten nicht alle mitkriegen. Das heißt, ich muss mir einen ruhigen Ort suchen, wo ich das ganz besonnen ansprechen kann und ganz wichtig eben, verständnisvoll. Und ich empfehle auf alle Fälle einfach immer das zu schildern, was ich wahrnehme. Und das ist in erster Linie die Sorge. Das heißt, das auch wirklich auszusprechen und zu sagen: Hey, ich mache mir Sorgen um dich, weil ich zum Beispiel sehe, du bist in letzter Zeit so niedergeschlagen oder zu ziehst dich immer mehr zurück. Du reagierst gar nicht mehr, wenn wir mit dir irgendwohin gehen wollen, wenn wir was unternehmen wollen oder wenn ich versuche, Kontakt zu dir herzustellen. Oder vielleicht weiß ich ja auch, dass bei der betroffenen Person zu Hause irgendwie gerade ja Schwierigkeiten auftreten. Dass vielleicht die Eltern im Scheidungsprozess sind oder es Schwierigkeiten in der Ausbildung gibt et cetera. Also das ansprechen, worüber ich mir Sorgen mache. Denn das ist erst mal was, wo die betroffene Person ja nicht in den Widerstand gehen muss oder sich nicht rechtfertigen muss. Das Schlimmste, was mir da passieren kann, ist, dass die betroffene Person sagt: Ja, hast vielleicht recht. Aber nein, so schlimm ist das nicht. Und dann im nächsten Schritt vielleicht aber auch zu sagen: Du und ich spreche dich jetzt deswegen an, weil ich mir Sorgen mache, dass du eine Essstörung entwickelt hast. Ich sehe, du isst immer weniger. Du nimmst immer mehr an Gewicht ab. Also auch hier die Wahrnehmung schildern und nicht in den Vorwurf gehen, nicht sagen: Hey, du hast so abgenommen, du bist viel zu dünn. Oder um Himmels Willen, du nimmst immer mehr zu, das ist ja nicht schön. Sondern ganz verständnisvoll einfach schildern, das und das beobachte ich. Ich mache mir Sorgen. Und damit die Möglichkeit zu geben, dass mein Gegenüber darauf reagieren kann. Ich möchte sie nicht anlügen, klar. Die meisten werden wahrscheinlich darauf reagieren, dass sie doch erst mal alles abstreiten, das ja herunter reden und sagen: Nein, so schlimm ist es nicht. Und nein, das bildest du dir nur alles ein. Das ist aber auch völlig okay für die erste Reaktion. Denn wir müssen uns überlegen, da wurde vielleicht etwas angesprochen, wofür sich die betroffene Person schämt oder was ihr selber noch nicht so bewusst ist. Das heißt, es erst mal abzuleugnen ist gar nicht so dramatisch. Und dann einfach zu sagen: Okay, ich spreche dich in ein paar Tagen nochmal darauf an. Lassen wir das erst mal einfach sacken. Und dann schauen wir mal, ob du vielleicht doch bereit bist, weiter darüber zu sprechen.
I: Ja, alles klar. Und wenn ich dann jetzt bei einer Person das erreicht habe, dass sie dann nach mehrmaligem Ansprechen vielleicht auch, ja sich geöffnet hat, dass sie sagt: Ja ich bin bereit, da was zu machen oder dass ich es bei mir selbst erkannt habe und jetzt den Weg einer Therapie gehen möchte. Was gibt es denn da so für Möglichkeiten? Wie kann ich mir ungefähr vorstellen, wie das abläuft?
B: Also eine Möglichkeit ist dann immer, in eine Beratungsstelle zu gehen. Denn in einer Beratungsstelle ist es genau der Auftrag herauszufinden, welche Therapie, welche Unterstützungsmöglichkeit für die einzelne Person die richtige ist. Vielleicht so viel vorneweg grundsätzlich, eine Essstörung muss psychotherapeutisch behandelt werden. Das heißt, es ist wichtig, in einer Psychotherapie genau diese Dynamiken herauszufinden. Warum ist denn die Essstörung da? Was für Probleme gibt es? Eben zu schauen, wie kann ich sie vielleicht anders lösen. Was kann ich anders machen, für andere Methoden, für andere Herangehensweisen et cetera. Und diese Psychotherapie kann entweder so genannt ambulant stattfinden. Das heißt, ich bleibe ganz normal in meinem sozialen Leben. Ich gehe weiter zur Schule, zur Ausbildung et cetera und gehe halt ein- bis zweimal in der Woche zu einer Psychotherapeutin, zu einem Psychotherapeuten, wo ich das bespreche. Vielleicht ergänzend noch mit einer Gruppe, wo ich mich mit anderen austauschen kann. Das ist so im ambulanten Bereich möglich. Und es gibt aber auch Fälle, wo wir sagen: Ja, da ist es ganz wichtig, einfach auch herauszukommen aus der akut belastenden Situation. Vielleicht gerade, wenn auch schon körperliche Beschwerden dabei sind, dann ist es möglich oder auch notwendig, dass ich einen stationären Aufenthalt mache. Das heißt, dass ich in eine Fachklinik gehe, wo ich eben auch Psychotherapie bekomme, aber natürlich zum Beispiel auch das Essen ganz anders unterstützt und begleitet werden kann. Und es gibt aber auch so eine Mischform. Das sind zum Beispiel auch unsere therapeutischen Wohngruppen im Therapienetz, wo Schule, Ausbildung et cetera weiterlaufen kann, die betroffenen Personen aber bei uns in der Wohngruppe leben. Das heißt, auch ganz intensiv therapeutische Unterstützung bekommen, Unterstützung auf der sozialpädagogischen Ebene und auf der ernährungstherapeutischen Ebene. Und das aber verknüpfen können mit dem normalen Leben in Schule, Ausbildung et cetera. Das heißt, so ja, so viel Unterstützung wie notwendig in einem so weitgehend normalen Umfeld.
I: Ja. Das heißt, da kann man wirklich ganz individuell schauen, was sind die Bedürfnisse und wie können wir jetzt gemeinsam eine Lösung finden. Das ist sehr schön, finde ich.
B: Absolut. Das ist auch wirklich notwendig. Weil, was für die eine Person total hilfreich sein kann, ist für die andere vielleicht gar nicht das, was sie in dem Moment braucht. Und deswegen ist es ganz wichtig, individuell einfach zu schauen und sich im Zweifel da auch eben gut beraten zu lassen und gemeinsam die Passform, die genau für mich zugeschnitten ist, dann zu finden.
I: Ja, das klingt logisch. Ich habe gelesen, dass Essstörungen auch häufig mit anderen Krankheiten wie zum Beispiel Depressionen einhergehen. Haben Sie das auch beobachten können? Ist das wirklich so?
B: Das ist so. Es ist fast so, dass ich sagen würde, es sind die wenigsten Fälle, wo die Betroffenen nur noch eine Essstörungsdiagnose haben. Ganz häufig sind da einfach noch andere Komorbiditäten, Krankheiten eben mit dabei. Sie haben jetzt gerade die Depression angesprochen, das sehen wir sehr, sehr häufig. Und da ist dann auch immer so ein bisschen die Frage nach Henne und Ei. Weil das Gemeine an der Situation ist, dass ja zum Beispiel eine Depression mit als eine Begleiterscheinung dann Appetitverlust mitbringt. Und andersherum sozusagen Patienten, Patientinnen, die im Untergewicht sind, ja eher so eine niedergedrückte Stimmung entwickeln, weil es für den Körper natürlich sehr viel energieschonender ist, ich sage mal, die Tagesschau auf der Couch zu liegen, als hier voller Power, voller Energie durch das Leben zu ziehen. Das heißt, also oftmals bedingen sich diese Komorbiditäten, diese Erkrankungen auch noch gegenseitig. Und deswegen ist es ganz, ganz wichtig, die dann einfach auch gemeinsam anzugucken. Also dann nicht zu versuchen, nur die Essstörung zu behandeln oder nur die Depression zu behandeln, sondern einfach beides mit auf dem Schirm zu haben. Sich bei beiden Themen anzugucken, wie beeinflusst es das Leben und was gibt es da für gute Lösungsstrategien. Letztendlich, der Weg bleibt der gleiche über eine gute Therapie. Und es macht die Sache vielleicht ja bisschen komplizierter, aber es ist auch möglich, auch diese Komorbidität und die Essstörung zu überwinden. Da lohnt es auf alle Fälle, sich Unterstützung zu holen.
I: Alles klar. Ich finde, da haben wir doch jetzt einen ziemlich guten ersten Überblick über das Thema gegeben und wissen jetzt: Okay, im betreffenden Fall sollte ich mich dann weiter informieren. Gibt es irgendwas, wo Sie finden, das ist gerade noch zu kurz gekommen?
B: Ja. Was ich vielleicht noch erwähnen möchte, also gerade, weil ich ja so appelliert habe. Wenn Sie, wenn ihr irgendjemanden kennt, sprecht die Person an. Wenn man sich da Gedanken macht und sagt: Aber irgendwie, ich bin mir unsicher. Beratungsstellen sind auch für Angehörige, Freunde et cetera offen. Also auch hier die herzliche Einladung, sich vielleicht dann einfach erst mal selber beraten zu lassen. Selber erst mal Unterstützung zu holen, zu sagen: Mensch, das und das ist der Fall. Wie schätzt denn ihr das ein? Mache ich mir umsonst Sorgen oder bestätigt ihr, dass ich die Freundin vielleicht ansprechen sollte. Dass man auch gemeinsam nochmal überlegen kann, wie kann man das tun. Und im Zweifel, dass man sich aber auch die Unterstützung holt, wenn die betroffene Person doch abblockt. Denn manche bleiben doch dabei, dass sie sagen: Nein, ich möchte keine Hilfe. Und dann kann es sehr belastend werden. Und dann ist es einfach auch wichtig, dass ich als Angehörige, als Freund, Freundin et cetera mir auch wieder die Unterstützung hole. Und im Zweifel vielleicht auch, ja gerade bei den Jüngeren, dann auch Eltern, Lehrkräfte et cetera mit in das Boot hole. Auch das ist immer wichtig, das gut zu überlegen, das nicht hinter dem Rücken der Betroffenen zu machen. Aber letztendlich für sich selber dann auch Hilfe zu holen und sagen: Ich kann das nicht alleine jetzt ertragen, das Wissen, dass es dir nicht gut geht. Ich werde da vielleicht Eltern oder Lehrkräfte et cetera jetzt halt mit einweihen. Das heißt, ganz wichtig, auch wenn ich nicht selber betroffen bin, nur als Angehörige, Freund, Freundin, darf man sich genauso die Unterstützung holen. Und eben tatsächlich wirklich auch für die Betroffenen kann ich es einfach nur wiederholen. Es lohnt echt, sich Unterstützung zu suchen, denn Essstörungen kann man in den Griff bekommen.
I: Das ist doch ein sehr schöner Ausblick, vielen Dank dafür. Vielen Dank, Frau Martinovic für das gesamte Interview. Die Zeit ist irgendwie verflogen mit Ihnen. Und ich wünsche Ihnen auf jeden Fall alles Gute.
B: Vielen Dank, Frau Brühl, Ihnen auch.
I: (Musik im Hintergrund) Frau Martinovic hat uns da auf jeden Fall einen super Überblick gegeben, finde ich. Und was mir ganz besonders in Erinnerung geblieben ist, dass es ein Zeichen von Stärke ist, sich Hilfe zu holen und dass man in der Regel nicht alleine aus einer Essstörung herauskommt. Dieser Podcast verabschiedet sich jetzt in eine kleine Winterpause. Und im Februar 2022 geht es dann wie gewohnt mit vielen spannenden Themen weiter. Abonniert doch den Kanal, um nichts zu verpassen. Euch eine schöne Weihnachtszeit und einen guten Rutsch.